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       # taz.de -- Historikerin über Nazis und Bier: „Lauter betrunkene Volksgenossen“
       
       > Einerseits war der gesunde Volkskörper das Ideal. Andererseits wollten
       > die Menschen trinken. Ein Gespräch mit der Historikerin Dorothea Schmidt.
       
   IMG Bild: Angehörige des „Führer-Begleitbataillons“ trinken 1942 auf eine Ordensverleihung
       
       taz: Frau Schmidt, mehrere große deutsche Brauereien haben höhere Preise
       angekündigt. [1][Bier sei bei uns zu billig, sagte der Geschäftsführer des
       Bayerischen Brauerbunds.] Das liege an der im Vergleich zu anderen Ländern
       höheren „Bierkultur“. Als Historikerin, die sich mit dem Bier im
       Nationalsozialismus beschäftigt hat: Können Sie uns erklären, was mit
       dieser „Bierkultur“ gemeint ist? 
       
       Dorothea Schmidt: Deutschland ist seit Langem ein Biertrinkerland. Vor dem
       Ersten Weltkrieg wurde hier mehr Bier getrunken als anderswo. Anfang der
       1930er Jahre gab es 4.500 Brauereien und 40.000 Hausbrauereien, das Land
       stellte den größten Biererzeuger Europas dar. Die Preise hingen immer von
       den Wettbewerbsverhältnissen auf den Märkten und von der staatlichen
       Politik ab, inwiefern der Bierkonsum also besteuert wurde. Heutzutage ist
       der Biermarkt hochkonzentriert, was Preisabsprachen zwischen den großen
       Anbietern erleichtert. Solche soll es laut Kartellamt etwa zwischen 2006
       und 2008 gegeben haben. Der Bierpreis stieg damals stark an.
       
       Bier und Nazis, diese Verbindung leuchtet einem sofort ein. Und doch
       schildern Sie in Ihrem Buch, dass das Verhältnis der Nationalsozialisten
       zur Volksdroge Nummer eins so eindeutig nicht war. Könnten Sie die
       Hauptlinien der Auseinandersetzungen skizzieren? 
       
       Einleuchtend ist die Verbindung von Bier und Nazis zunächst, wenn man sich
       daran erinnert, dass der Aufstieg Hitlers in Münchner Bierkellern begann.
       Der (letztlich gescheiterte) Putsch von 1923 nahm seinen Ausgangspunkt im
       Bürgerbräukeller und Hitler trat dort später jedes Jahr auf, um an das
       legendäre Datum zu erinnern. Auch Weihnachtsfeiern für die „alten Kämpfer“
       fanden in Bierkellern statt, und sowohl SA wie SS betrieben zahllose
       „Sturmlokale“ als Treffpunkt für ihre Mitglieder. Dies alles stand deutlich
       im Gegensatz zu den gesundheitspolitischen Zielen, denn der „arische
       Volkskörper“ sollte durch Alkohol nicht geschwächt werden, insbesondere
       nicht bei den künftigen Soldaten. So sprach Hitler 1935 auf dem Nürnberger
       Parteitag vor der versammelten Hitlerjugend und rief diese dazu auf, sie
       sollten „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ sein
       und insofern ein Gegenbild zum „Bierspießer“ darstellen.
       
       Die NSDAP geriert sich in ihren Anfängen als Partei des unzufriedenen
       Mittelstands, Kaufleute und Handwerker sind besonders stark vertreten. Der
       Biermarkt ist aber zur Hälfte in der Hand der Großbrauereien, mit denen
       sich die Partei gut stellen will. Wie lösen die Nazis diesen Widerspruch? 
       
       Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es an die 500 Aktienbrauereien und die
       Großbrauereien waren auch später am ehesten in der Lage, moderne
       Produktionsmethoden einzuführen und den Gaststätten exklusive
       Lieferverträge aufzunötigen. Die Nazis machten sich zumindest vor 1933 für
       die Anliegen mittelständischer Unternehmen stark, ließen diese dann aber
       weitgehend im Stich, weil sie die kleinen und mittleren Betriebe als wenig
       produktiv einschätzten. Zur Forcierung der Aufrüstung wie in der späteren
       Kriegswirtschaft setzten sie daher in erster Linie auf die Großunternehmen.
       Das war auch bei den Brauereien der Fall, von denen große wie die
       Schultheiß-Brauerei überdies davon profitierten, dass sie im Krieg
       „Wehrwirtschaftsbetriebe“ wurden und die Front belieferten.
       
       Als „Boom ohne Wohlstand“ bezeichnet ein zeitgenössischer US-Korrespondent
       in Berlin die ersten Jahre der Naziherrschaft. Doch trotz Preiserhöhungen
       und Qualitätsverschlechterung bei vielen Nahrungsmitteln nennen Sie hohe
       Zuwächse beim Konsum von Wein, Schnaps und Bier – woran liegt das? Man aß
       schlechter in Nazideutschland, trank dafür aber mehr? 
       
       Da sich die Devisenknappheit durch die angestrebte Autarkiepolitik
       drastisch verschärfte, sollten Importe durch einheimische Produktion
       ersetzt und der Konsum insgesamt gedämpft werden, um Mittel für die
       Aufrüstung freizumachen. Roggenbrot, Fisch und Äpfel anstelle von Weißbrot,
       Fleisch und tropischen Früchten. Neben Propagandaaktionen geschah das vor
       allem durch die Preispolitik. Für viele Lebensmittel stiegen die Preise und
       viele wurden in schlechterer Qualität angeboten. Dagegen wurde der
       Bierpreis gesenkt und die bisherige Qualität blieb erhalten. Das Regime
       nahm Rücksicht auf die Stimmung der Bevölkerung.
       
       Sie beschreiben einen fortgesetzten Konflikt zwischen der Naziorganisation
       Reichsnährstand und den Brauereiverbänden. Worum ging es da? Und welche
       Rolle spielte der für die Preiskontrolle im NS zuständige Reichskommissar? 
       
       Aufgabe des Reichsnährstandes sollte es sein, den Markt für sämtliche
       landwirtschaftlichen Produkte zu regulieren, und zwar vorrangig im Sinn der
       Bauernschaft. Aber die privilegierte Stellung des Bauernstandes, wie sie in
       der Losung „Blut und Boden“ zum Ausdruck kam, hielt sich nicht lange. Bald
       erschien es wichtiger, die Versorgung der „Volksgemeinschaft“ in den
       Vordergrund zu stellen, und bereits ab 1934 nahm der Preiskommissar dem
       Reichsnährstand wichtige Kompetenzen ab, so auch beim Bierpreis. Das
       stärkte die Stellung der Brauereiverbände, die Interesse daran hatten,
       sowohl den mengenmäßigen Ausstoß an Bier wie die Qualität auf einem
       möglichst hohen Niveau zu erhalten, was ihnen bis weit in die Kriegsjahre
       hinein gelang.
       
       NS-Veranstaltungen sollten alkoholfrei ablaufen. Gleichzeitig werden aber
       „vollständig betrunkene Zellen- und Blockleiter“ gemeldet. Hatten die Nazis
       die Massen nicht so im Griff, wie sie das selber gern darstellten? 
       
       Trunkenheitsexzesse sind zumindest von den Nürnberger Parteitagen
       dokumentiert, denn sobald die großen Ansprachen und Aufmärsche am
       Zeppelinfeld vorbei waren, fielen die Teilnehmer (möglicherweise auch
       Teilnehmerinnen) in die lokalen Bierwirtschaften ein. In den ersten Jahren
       nahmen ungefähr eine Million Menschen an dem Großereignis teil und viele
       waren fasziniert von der gigantischen Inszenierung. Mit der Zeit machte
       sich jedoch ein gewisser Überdruss bemerkbar und die Parteioberen bemühten
       sich, um die Massen bei der Stange zu halten, Volksfeststimmung zu
       verbreiten. Ab 1937 wurden hölzerne Bierhallen aufgebaut, was das Problem
       der großen Zahl betrunkener Volksgenossen allerdings weiter verschärfte.
       
       Mit dem deutschen Überfall auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Das Bier
       gilt nun als „Sorgenbrecher“ der Soldaten, Ausgebombte bekommen Bierkästen
       geliefert. Was ändert sich im Laufe des Krieges an der Bierversorgung der
       Volksgenossen? 
       
       Der Bierausstoß ging mit Kriegsbeginn leicht zurück, die Versorgung der
       Bevölkerung war aber selbst im fünften Kriegsjahr noch besser als zur Zeit
       der Weltwirtschaftskrise. Dies hatte vermutlich auch mit einer persönlichen
       Intervention Hitlers zu tun, der anlässlich einer Besprechung zur Bierfrage
       im Juni 1941 ausrichten ließ, dass „auf jeden Fall für die Bereitstellung
       der nötigen Biermengen gesorgt werden müsse“. Ein großer Teil des
       Bierausstoßes ging, ähnlich wie andere Lebensmittel, an die Front. Die
       Brauereien konnten daher weniger Bier für die Zivilbevölkerung abgeben,
       dafür nahm aber ab 1939 die Zahl der Hausbrauereien, die offiziell für den
       eigenen Bedarf produzierten, zu.
       
       „Wenn der Deutsche zu arm geworden ist, um sich ein Glas Bier zu kaufen,
       ist er am Verzweiflungspunkt angelangt“, zitieren Sie einen Korrespondenten
       aus der Weltwirtschaftskrise. Spielt dieser Mangel tatsächlich eine Rolle
       bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten?
       
       Weder der Biermangel noch die Arbeitslosen waren 1933 letztlich
       entscheidend. Was der Journalist hier anspricht, ist das katastrophale
       Versorgungsniveau weiter Teile der Bevölkerung, vor allem der sechs
       Millionen Arbeitslosen, und ein Glas Bier galt ihnen bis dahin nicht als
       extravaganter Luxus, sondern eher als Grundnahrungsmittel. Anders als es
       lange Zeit behauptet wurde, gingen die Wahlerfolge der Nazis nicht in
       erster Linie auf die Gruppe der Arbeitslosen zurück, sondern auf Angehörige
       des „alten Mittelstandes“ und auf Teile der Arbeiterschaft, aber gerade
       nicht auf die Arbeitslosen darunter. An die Macht kamen die Nazis auch
       nicht durch einen neuen fulminanten Wahlerfolg, sondern weil
       Reichspräsident Hindenburg sich für Hitler als Kanzler einer
       Koalitionsregierung entschied.
       
       20 Jan 2020
       
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