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       # taz.de -- Leslie Jamisons Roman „Der Gin-Trailer“: Das Leben der anderen
       
       > Warum hat fast jede Familie ihre schwarzen Schafe? Diese Frage stellt
       > sich US-Autorin Leslie Jamison in ihrem Roman „Der Gin-Trailer“.
       
   IMG Bild: Schwarze Schafe gehen ihre eigenen Wege
       
       Dank Stella ist man sehr schnell drin in diesem Buch. Denn Stella ist eine
       erstaunliche Figur, eine Art moderne Version der so sympathischen wie
       verlorenen Holly Golightly aus Truman Capotes „Frühstück bei Tiffany“. Sie
       arbeitet in New York als Assistentin für eine Starjournalistin mit absurden
       Gewohnheiten. Sie hat eine Affäre mit einem verheirateten Professor.
       
       Und wenn ihre Mutter, eine ehrgeizige Anwältin für Einwanderungsrecht, sie
       fragt, welche Pläne sie habe, dann fällt ihr keine Antwort ein. Wenn andere
       sie fragen, ob sie stark sei, sagt sie, dass sie sich eher fühle, als sei
       sie „in viele kleine Segmente unterteilt “, die „nicht notwendigerweise
       miteinander in Kontakt“ stünden.
       
       Doch schon auf der allerersten Seite des Romans „Der Gin-Trailer“ ist es
       vorbei mit Stellas Leben, in dem sich alles so seltsam taub anfühlt. Ihre
       Großmutter Lucy liegt im Sterben, und Stella beschließt nur vordergründig,
       sie zu pflegen, weil es sonst keiner tut. Eigentlich geht es ihr darum, mal
       wieder mit Existenziellem in Kontakt zu treten.
       
       Und während man schon glaubt, dass die 1983 geborene New Yorker Autorin
       Leslie Jamison, die in Deutschland [1][mit dem Essayband „Die
       Empathie-Tests“ bekannt wurde,] gerade einen der besten Texte über den
       Kontrollverlust des Älterwerdens anreißt, zieht der Roman zum zweiten Mal
       die Bremse. Lucy berichtet ihrer Enkelin Stella von einer Tante, von der
       sie bislang nichts wusste, von Mathilda, die als junge Frau ihr Elternhaus
       verließ und verschwand.
       
       Es kommt, wie es kommen muss: Stella pflegt Lucy, bis sie stirbt, dann
       packt sie ihre Sachen und macht sich auf die Suche. Bis sie Mathilda als
       schwer alkoholkranke Ex-Prostituierte im Trailerpark findet, wird Stella
       noch von ihrem Bruder Tom begleitet.
       
       Als Stella aber beschließt, mit Mathilda zu gehen und ihr dabei zu helfen,
       ein neues Leben zu beginnen, wirft Tom das Handtuch. „Du warst schon immer
       wahnsinnig schlecht darin, dein eigenes Leben zu leben“, sagt er zu ihr.
       „Dafür bist du immer geradezu gierig auf das Leben aller anderen.“ Stella
       gibt ihm recht.
       
       ## Das Funktionale und das Dysfunktionale
       
       An den besten Stellen des Romans von Leslie Jamison ist es, als sei er in
       Wirklichkeit gar kein Roman, sondern eine Versuchsanordnung, die etwas sehr
       Interessantes herauszubekommen will. Es geht um die große, oft gestellte
       und noch immer nicht befriedigend beantwortete Frage, warum es in so vielen
       scheinbar intakten Familien immer wieder schwarze Schafe gibt, die
       ausscheren, die anders als die anderen so gar kein Talent haben zum
       Glücklichsein.
       
       Stella kümmert sich natürlich nicht nur deshalb um Mathilda, weil sie die
       große Ödnis mit etwas zu füllen versucht. Sie kümmert sich auch um sie,
       weil sie sich verwandt fühlt mit ihr. Alle finden Stellas so wohlsortierte
       wie kontrollierte Mutter toll. Nur Mathilda und Stella können sich
       gemeinsam lustig machen über die geregelten Bahnen, die die Mutter nie
       verlässt.
       
       Der Roman läuft zu seinem zweiten Höhepunkt nach den Sterbeszenen am Anfang
       auf, als Mathilda und Stella im luxuriösen Loft von Mathildas Sohn Abe
       landen. Abe ist bei seinem Vater, einem ehemaligen Freier Mathildas und
       erfolgreichen Geschäftsmann, aufgewachsen.
       
       ## Zu eindeutig
       
       Er ist zwar auch selbst erfolgreich geworden, aber völlig bindungsunfähig –
       und zum Glück lässt es der Roman offen, ob das wegen der paar Sommer ist,
       die er als Kind bei seiner Mutter verbringen durfte, oder wegen der Zeit
       dazwischen, als er von ihr getrennt war. Es hat erstaunliche Effekte, wie
       Jamison in ihrer trockenen, humorvollen Art das Funktionale von Abe und das
       Dysfunktionale seiner Mutter aufeinanderprallen lässt: wie sich ihre beiden
       Sphären wechselseitig den Spiegel vorhalten.
       
       Passagen wie diese trösten den Leser über andere hinweg, die nicht aus
       Stellas Perspektive berichten, sondern aus der von Mathilda, einer Figur,
       die in ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung schwerer mit Leben zu füllen
       ist als die unentschiedene Stella. Schwieriger ist es hingegen, dass der
       „Gin-Trailer“ an manchen Stellen sehr weit geht, um den Plot rund zu
       bekommen.
       
       Am schlimmsten ist in dieser Hinsicht die Auflösung dafür, warum Mathilda
       ist, wie sie ist: Sie wurde als Kind von einem Fremden vergewaltigt. Das
       wirkt fast wie ein Verrat an der Verbindung zwischen Stella und ihrer
       Tante. So, als sei das Rätsel der schwarzen Schafe doch lösbar. So, als
       hätte wirklich jede Wirkung ihre eindeutige Ursache.
       
       25 Jan 2020
       
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