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       # taz.de -- Kommunalpolitiker werden bedroht: Wenn die Angst regiert
       
       > Nach Bedrohungen ziehen sich mehrere Bürgermeister zurück, einer will
       > sich bewaffnen. Die Bundesregierung ist besorgt.
       
   IMG Bild: Stellten sich hinter Bürgermeister Landscheidt: Demonstranten am Samstag in Kamp-Lintfort
       
       BOCHUM/BERLIN taz | Es endete im Propaganda-Desaster. Nur gut 20
       Rechtsextremisten der Splitterpartei „Die Rechte“ fanden sich am Samstag in
       Kamp-Lintfort ein, um gegen Bürgermeister Christoph Landscheidt
       aufzumarschieren. Ihnen gegenüber standen aus Solidarität mit dem
       Sozialdemokraten etwa 1.000 Bürger*innen.
       
       „Volksgericht statt Waffenschein“, brüllten die Neonazis in der
       37.000-Einwohner*innen-Stadt westlich von Duisburg. „Vor dem nächsten
       Nazimord – Widerstand an jedem Ort“, hielten die viel zahlreicheren
       Gegendemonstrant*innen dagegen. Landscheidt selbst, ein 60-jähriger
       Professor, seit 1999 im Amt, war nicht zur Demo gekommen.
       
       Zuvor hatten die Rechtsextremen öffentlich gemacht, dass der Bürgermeister
       aus Angst vor Angriffen durch Neonazis eine scharfe Schusswaffe besitzen
       will. Medien hatten dies zunächst nur anonym berichtet. Selbstverständlich
       werde er nicht „in Texas-Manier bewaffnet durch die Straßen ziehen“,
       erklärte Landscheidt darauf. Er respektiere „das Gewaltmonopol des
       Staates“.
       
       Nach eigenen Angaben wird Landscheidt aber „massiv“ von Neonazis bedroht,
       seit er im EU-Wahlkampf im Mai 2019 volksverhetzende Plakate der „Rechten“
       abhängen ließ. „Israel ist unser Unglück“, stand darauf – eine unverhohlene
       Anspielung auf die Parole „Die Juden sind unser Unglück“ von Hitlers
       NSDAP-Hetzblatt Der Stürmer. Bis zuletzt habe es „Vorfälle und
       Gefährdungssituationen“ gegeben, in denen „polizeiliche Hilfe nicht
       rechtzeitig erreichbar gewesen wäre und auch in Zukunft nicht erreichbar
       sein würde“, erklärte Landscheidt. Er beruft sich nun auf Paragraf 55 des
       Waffengesetzes, der „erheblich gefährdeten Hoheitsträgern“ einen
       Waffenschein zubilligt.
       
       ## Mehr als 1.200 Straftaten gegen Politiker
       
       Und Landscheidt ist nicht der Einzige, der sich bedroht fühlt, bei Weitem
       nicht. Zuletzt zogen sich gleich mehrere AmtsträgerInnen wegen Bedrohungen
       zurück. [1][1.241 politische Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger
       zählte das BKA im vergangenen Jahr] bis Anfang Dezember. Tiefpunkt war der
       Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). In einem
       BKA-Lagebild wird weitere Gewalt befürchtet, in Einzelfällen sei „auch mit
       Tötungsdelikten zu rechnen“.
       
       Der jüngste Rückzug ist erst wenige Tage her: Arnd Focke, ehrenamtlicher
       Bürgermeister von Estorf, 1.700 Einwohner in Niedersachsen. Fünf Mal sei
       sein Auto mit Hakenkreuzen beschmiert worden, [2][er habe Drohbriefe und
       nächtliche Drohanrufe erhalten], klagt der SPD-Mann, dessen Gemeinde sich
       wiederholt gegen Rechtsextreme positionierte. Vor Weihnachten habe sich die
       Lage zugespitzt. „Das hat meine persönliche Grenze des Erträglichen
       überschritten“, so Focke im Interview mit der taz.
       
       Auch Silvia Kugelmann, Bürgermeisterin von Kutzenhausen (Bayern), klagt
       dieser Tage über Bedrohungen. Sie habe Drohschreiben erhalten, an die
       Scheibe ihres Autos wurde Katzenkot geschmiert. „Ich fühlte mich beschmutzt
       und ohnmächtig“, so Kugelmann zur Süddeutschen Zeitung. Ein anderes Mal sei
       ein Nagel in ihren Autoreifen gedrückt worden. Erst bei 160 km/h auf der
       Autobahn habe sie bemerkt, wie der Reifendruck nachließ. „Wenn Sie so
       angegriffen werden und die große Mehrheit schweigt, dann ist der Platz an
       diesem Schreibtisch sehr einsam.“ Die 53-Jährige tritt deshalb im März
       nicht wieder für ihr Amt an.
       
       Martina Angermann hat sich schon zurückgezogen. Bereits Ende November trat
       die SPD-Bürgermeisterin von Arnsdorf (Sachsen) zurück – nach jahrelangem
       rechten Mobbing. 2016 hatte eine Bürgerwehr in ihrem Dorf einen
       Geflüchteten an einen Baum gefesselt. Angermann verurteilte die Tat – und
       wurde fortan bedroht. „Ich wurde übelst beschimpft“, erzählte sie der taz.
       Die Rechten hätten angefangen, Vereine zu unterwandern. Und auch sie sagt:
       „[3][Ich habe darunter gelitten, dass die Mitte der Gesellschaft
       geschwiegen hat].“ Am Ende habe sie sich in Arnsdorf nicht mehr sicher
       gefühlt. Angermann ließ sich erst krankschreiben, dann trat sie zurück.
       
       Die Bundesregierung äußert sich über die Vorgänge besorgt. Innenminister
       Horst Seehofer (CSU) erklärte am Wochenende, die Kommunen seien „das
       Rückgrat“ der Demokratie. „Es liegt im gesamtstaatlichen Interesse, dass
       sich unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger weiterhin für kommunale Ämter und
       Ehrenämter zur Verfügung stellen.“ Auch Außenminister Heiko Maas (SPD)
       twitterte: „Wenn Kommunalpolitiker in den Rücktritt getrieben werden, ist
       das beschämend für unsere Demokratie.“ Der Rechtsstaat dürfe das nicht
       tatenlos hinnehmen.
       
       Zuletzt hatte bereits Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf seinem
       Neujahrsempfang appelliert: „Wir müssen unsere Stimme erheben, wann immer
       Menschen im öffentlichen Leben herabgewürdigt, beleidigt oder bespuckt
       werden.“
       
       Die Bundesregierung hatte nach dem Lübcke-Mord und dem Anschlag von Halle
       in einem Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus auch mehr Schutz für
       Lokalpolitiker versprochen. Das bereits bestehende Delikt „Verleumdung
       gegen Personen des politischen Lebens“ soll künftig nicht nur Bundes- und
       Landespolitiker, sondern auch Kommunalpolitiker erfassen. Es ist eine
       symbolische Strafverschärfung: Verleumdung an sich ist auch so schon
       strafbar. Wie viel die Maßnahme hilft, bleibt ungewiss.
       
       ## Bürgermeister will „nicht schutzlos ausgeliefert sein“
       
       Christoph Landscheidt wählt nun einen eigenen Weg: Der Bürgermeister und
       Jurist, der jahrelang als Richter gearbeitet hat, kämpft vor dem
       Verwaltungsgericht Düsseldorf um einen großen Waffenschein.
       NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hält davon nichts: Gebe es
       Bedrohungen, würden „nötige Maßnahmen“ ergriffen. Michael Mertens,
       Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, erklärte ebenso: „Sicherheit
       gehört in die Hände von Profis.“
       
       Auch Bundesinnenminister Seehofer ist gegen eine Bewaffnung von Politikern.
       „Änderungen des Waffenrechts sind seitens der Bundesregierung weder geplant
       noch sind diese aus Sicht des Bundesinnenministeriums angezeigt“, erklärte
       sein Sprecher am Sonntag der taz.
       
       Bürgermeister Landscheidt hält dagegen. Es gehe ihm um „außergewöhnliche
       Notwehrsituationen“, so der SPD-Mann. „Um Angriffen gegen mich und meine
       Familie nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.“ Das Recht sehe dies für
       Hoheitsträger explizit vor.
       
       12 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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