URI: 
       # taz.de -- Radikal softe Musik von Okay Kaya: Mein Klon singt schon
       
       > Rastlose Vita: Was das neue Album „Watch This Liquid Pour Itself“ der
       > US-norwegischen Künstlerin Okay Kaya über das Zwanzigerjahre aussagen.
       
   IMG Bild: Zum Haare raufen: Okay Kaya
       
       Was wird das für ein Jahrzehnt, das da gerade fast unbemerkt angefangen
       hat? Waren die Zehner eher geprägt von Vermischung und Auflösung, ein
       Jahrzehnt, in dem endlich alles mit allem so ging, wie das einst den
       Achtzigern vorgeschwebt hatte – HipHop belebt Jazz wieder, [1][Future-R&B]
       denkt Folklore und Ambient weiter –, könnten die Zwanziger vielleicht zum
       Jahrzehnt der Stimmenvielfalt werden. Menschen, die in der klassischen
       Popkultur eher am Rande Platz fanden, könnten dann von einem Ich erzählen
       lernen, das glaubwürdig und künstlich zugleich ist. In der Literatur haben
       Autor:innen wie Ocean Vuong und Maggie Nelson schon Spuren gelegt – eine
       Künstlerin wie Okay Kaya kann das nun in der Musik weiterverfolgen.
       
       Die US-norwegische Künstlerin verfolgt einen vergleichbaren Ansatz. So
       gesehen ist es nur angemessen, dass das zweite Album der
       Singer-Songwriterin, „Watch This Liquid Pour Itself“, nun dieses neue
       Jahrzehnt mit ankickt. Schon auf ihrem Debütalbum „Both“ (2018) drängte das
       Bild des Klons sich auf, es ging um Dualismen.
       
       Auf dem Albumtitel vom Cover blickte Kaya Wilkins, die hinter dem Alias
       steckt, die Betrachter*innen zweifach an. Diesmal fährt sie im Video
       zur Single „Baby Little Tween“ eine abstrakte DIY-Puppenversion ihrer
       selbst, in ihren Zopf verflochten, auf dem Rücken und auf Skiern einen
       japanischen Berg hinunter, ehe sie den gelben Kopf dramatisch mit einer
       Küchenschere abschneidet.
       
       Das ist over the top, während die Musik sich im Bereich des Erwartbaren
       bewegt: ein modern verspieltes Bedroompopstück mit Folkschlagseite. Und
       dann sind da noch die Songtexte als der andere Pol dieses kleinen
       Kunstwerks: „What if the pills I take will stop getting me wet“, fragt sie:
       Was, wenn die Antidepressiva mich nicht mehr feucht werden lassen? „I used
       to fight the feeling, always let it win“, singt sie. Der Zwilling, er lässt
       sich so leicht nicht loswerden.
       
       ## Offen für Realität neben der Kunst
       
       Die Themen, die die 30-Jährige verhandelt – Depressionen, Ängste,
       gelingende Beziehungen ohne Sex –, sind bis jetzt entweder aus dem Diskurs
       ausgeschlossen oder cartoonesk überzeichnet. Das Stilmittel der
       Überzeichnung nutzt auch Kaya Wilkins, ihre Darstellung bleibt dabei
       dennoch offen für eine Realität hinter der Kunst. „Worüber ich schreibe,
       ist real. Aber dennoch sind diese Gefühle nicht notwendigerweise meine
       Persönlichkeit. Die Extreme sind immer eigene Charaktere. Ich kann auf mich
       selbst schauen und ‚sie‘ denken: ‚Sie ist ja verrückt!‘ “, erklärt Wilkins
       im Gespräch. „Menschen mit Depressionen haben manchmal ein Hilfsmittel: in
       der Mitte einer Phase sich in sich zurückzuziehen und sich zu
       vergegenwärtigen, dass die Krankheit nicht der Kern ihrer Persönlichkeit
       ist.“
       
       Der Kern von Wilkins wäre aber auch schwer zu fassen. Aufgewachsen ist sie
       auf der Halbinsel Nesoddtangen im Oslofjord, gleich gegenüber der
       norwegischen Hauptstadt, als Tochter einer Norwegerin und eines Amerikaners
       – geboren ist sie in New Jersey. Das Trauma ihrer Generation, der Amoklauf
       des Rechtsterroristen [2][Anders Breivik] nahe Oslo 2011, erlebte sie aus
       der Distanz von London aus mit, wohin sie mit 18 Jahren zog, um eine
       Karriere als Fashionmodel zu verfolgen.
       
       Mittlerweile lebt sie in New York und hat die Musik wiederentdeckt, eine
       Idee verwirklicht, die sie als Jugendliche bereits aufgegeben hatte – ihre
       Mutter stellte sie damals vor die Wahl, entweder tanzen oder musizieren,
       für zwei Kurse reichte das Geld nicht. Sie entschied sich für Tanz. Gitarre
       lernte sie erst später wieder neu. „Ich sehe mich noch immer in diesem
       norwegischen Mädchen. Aber ich fühlte mich schon sehr anders als die
       anderen, als ich dort lebte. Ich habe diese doppelte Identität, und die
       erkunde ich noch immer.“
       
       ## Radical Softness
       
       Längst ist Wilkins nicht nur als Model etabliert, 2017 gab sie auch ihr
       Schauspieldebüt im norwegischen Spielfilm „Thelma“. Als Musikerin hat sie
       sich unterdessen einen Ruf als starke neue Stimme eines feministischen
       Diskurses um radical softness erarbeitet. Das Gespräch mit ihr ist eher
       ein partyfähiger Smalltalk als didaktische Kunstexegese oder
       Therapiesession, und man hätte schon den Humor übersehen müssen, der aus
       der Musik spricht, aus Titeln wie „Asexual Wellbeing“, „Mother Nature’s
       Bitch“ oder „Hallelu Ya, Hallelu Me“, um davon überrascht zu sein.
       
       „Wenn man mich fragt, was die Zukunft bereithält – dann sage ich, dass das
       Einzige ist, was ich hoffe, dass die Zukunft mir weiterhin Glück bringt.
       Das gibt mir Trost und Sicherheit. Ich wünsche mir, dass die Zukunft mich
       packt und mich mitzieht“, sagt Wilkins und fragt, ob pull auf Deutsch
       wirklich ziehen heißt. „Alle sind überrascht über meinen Optimismus“,
       ergänzt die Künstlerin, „aber ich hebe mir den Nihilismus einfach für
       besondere Momente auf.“
       
       23 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /RB-Album-von-Jessy-Lanza/!5313852
   DIR [2] /Fuenf-Jahre-nach-dem-Massaker-von-Utya/!5328471
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Steffen Greiner
       
       ## TAGS
       
   DIR Okay Kaya
   DIR Fashionmodel
   DIR Norwegen
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Pop-Kultur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Post-Rock von Algiers: Sägemehl statt Benimm
       
       Die US-Rumpelfüßer Algiers veröffentlicht ihr neues Album „There Is No
       Year“ und kommt auf Tour. Das hat diesmal mehr von Dronemetal als von R&B.
       
   DIR Neues Album von Jenny Hval: Fragmente von Liebe als Praxis
       
       Produktion oder Reproduktion? „The Practice of Love“, Jenny Hvals neues
       Album, erzählt vom Nocherwachsenerwerden als Frau.