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       # taz.de -- Dorota Masłowskas Roman „Andere Leute“: Warschauer Tristesse
       
       > Zwischen wirtschaftlichem Liberalismus und gesellschaftlichem
       > Konservatismus: Masłowska entwirft eine gelungene Groteske ihres
       > Heimatlandes.
       
   IMG Bild: In einem Plattenbau in Warschau fristet der 32-jährige Kamil ein tristes Leben
       
       Kamil Janik ist ein armes Würstchen. Er ist 32 Jahre alt, lebt gemeinsam
       mit Mutter und Schwester in einem Plattenbauviertel in Warschau, wo er ein
       sinnlos vor sich hin plätscherndes Leben führt. Mahnungen flattern rein,
       das Handy ist abgestellt, seine Mutter will ihn loswerden. Er dealt, holt
       über Schwarzarbeit etwas Patte rein.
       
       Eigentlich aber, so glaubt er, hätte er das Zeug zum großen Rapper, sieht
       sich als nächsten polnischen HipHop-Star. Was sich in seinen inneren
       Monologen widerspiegelt: „Der Tag verkackt, denkt Kamil, kein Kick beim
       Blick auf das Himmelsblei durch die Gardinen, so viel gewartet, und alles
       gefickt, schon am Morgen.“
       
       Dass sein Traum von der Karriere als Rapper Illusion bleiben muss, ist von
       Beginn an klar. Denn Kamil, der Protagonist in [1][Dorota Masłowskas] Roman
       „Andere Leute“, kriegt wenig auf die Kette und ist nicht mit Klugheit
       gesegnet. Er kann sich weder die Bedeutung mancher Worte merken noch wie
       sie geschrieben werden.
       
       Um Kamil herum ist die gesamte Handlung aufgebaut: Maciej und Iwona führen
       eine kaputte Ehe – mit Ersterer hat der Möchtegern-Rapper eine kurze Affäre
       („Zahn jünger als seine Mutter, schätzt er jetzt mal, ei ei. Die Zähne
       gardinenweiß, polyesterglatte Titten, mit unsichtbar genähten Schnitten“).
       
       ## Sich mit Beruhigungsmitteln über Wasser halten
       
       Auch mit Anetta hat Kamil was – Anetta lebt in einer WG mit Justa, hat für
       ihre Mitbewohnerin aber nur Verachtung übrig („In einem fort trottet sie zu
       irgendwelchen Kolloquien, fährt an den Wochenenden nach Kutno. Ihr Gesicht
       geht noch, aber das Doppelkinn und die fetten Schenkel, eine Semmelfrau“).
       Masłowskas Figuren mäandern ansonsten ziel- und planlos durch die
       Warschauer Tristesse, halten sich mit Beruhigungsmitteln über Wasser,
       hintergehen einander, öden einander an.
       
       Aber Dorota Masłowska breitet in ihrem vierten Roman keineswegs auf 160
       Seiten Elendsimpressionismus aus. Im Gegenteil. Die 36-jährige Autorin,
       die selbst in Warschau lebt, dreht die Handlung ins Absurde, ins Komische.
       Über weite Strecken schreibt sie genau die Rap-Songs, die Kamil gerne
       schreiben würde, wenn ihm nicht die Beats dazu fehlen würden (wie sich am
       Ende herausstellt).
       
       Aus dessen Perspektive wird auch weitgehend erzählt, entsprechend
       lächerlich müssen die Reime, die oft in Streams of Consciousness eingeebnet
       sind, zuweilen auch klingen; da kommt einem so manch reaktionär-infantiler,
       männlicher Rapper unserer Tage in den Sinn. Übersetzer Olaf Kühl hat das in
       der deutschen Fassung hervorragend gelöst.
       
       Er baut sogar lustige Verweise auf Stefan Georges berühmten Vers „Komm in
       den totgesagten park und schau“ ein: „Derweil in ihrem totgesagten Garten
       segelt nur ein leerer Xanax-Blister vom Tischchen zu Boden, wie das letzte
       Blatt des Baumes. Draußen vor dem Fenster Warschau, ohne Kräuter, ohne
       Lavendel, dafür mit Smog und Düsterkeit.“
       
       ## Jesus rechtfertigt blutige Gewaltfantasie
       
       Der entscheidendere erzählerische Kniff, vielleicht der Schlüssel, um
       „Andere Leute“ zu verstehen, sind aber die dialogischen Einsprengsel, bei
       denen verschiedene Charaktere – meist aus dem Off – das Geschehen
       kommentieren. Als etwa eine blutige Gewaltfantasie der zuvor als
       bieder-brav-zurückgeblieben eingeführten Figur Justa geschildert wird, die
       sich an ihrer fiesen Mitbewohnerin Anetta zu rächen gedenkt, hat plötzlich
       Jesus Christus seinen Auftritt: „Das ist keine Sünde, es ist ja nur in der
       Phantasie“, interveniert er.
       
       Worauf eine Nonne sich einschaltet und sagt: „Ich würde auch gern manchmal
       jemanden überfallen und schlagen“, und in der Folge die ganze Nachbarschaft
       – Nachbar 1, Oma und Nachbarin im Rollstuhl („Ich möchte jemandem in die
       Fresse hauen, egal wem“) – in einen Chorus der Verwünschung und des Hasses
       einfällt. Diese Zwischenspiele sind irgendwo zwischen Sitcom und
       Endzeit-Muppet-Show anzusiedeln.
       
       Spätestens da sollte einem klar sein, dass es Masłowska, die in Polen auch
       Stücke für das Theater geschrieben hat, eigentlich darum geht, eine
       Groteske zu entwerfen. Ganz in diesem Sinne macht sie sich über die
       Misogynie, den Rassismus und die Dummheit ihres Protagonisten lustig, der
       feststellt: „Warschau ist okkupiert von Schwulen und Transen, blasierten
       Bonzengören, Schokos, Pakistanern und Tsching-Tschang-Tschong-Fidschis.
       Sorry, das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“
       
       ## Der Mangel an sinnstiftenden Dingen
       
       Masłowska erzählt aus dem Milieu der sogenannten Abgehängten, wobei es
       ihren Figuren eher an sinnstiftenden Dingen in ihrem Leben mangelt, als
       dass es ihnen materiell schlecht ginge. Und über allem hängt ein altes
       Ungeheuer namens Katholizismus, das sich moralisch aufschwingt, wenn etwa
       eine verheiratete Frau eine Affäre hat (auch da streut Masłowska ein
       lustiges Zwischenspiel ein).
       
       So kommt die Autorin den Zuständen ihres zwischen wirtschaftlichem
       Liberalismus und gesellschaftlichem Konservatismus und Katholizismus
       zerrissenen Heimatlandes mit Komik und Überzeichnung bei. Zum Teil erinnert
       [2][der Erzählstil an Sibylle Berg] – das Bosheitslevel ist hier jedenfalls
       auch beständig hoch.
       
       Im HipHop gibt man anderen Crews und Künstlern „Props“, wenn sie
       ausreichend „real“ sind; Masłowska und Kühl haben hier eine sehr eigene
       Erzählweise für die polnische Gegenwart gefunden und überzeugen mit
       „realness“. Props von dieser Stelle seien ihnen sicher.
       
       22 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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