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       # taz.de -- Baustadtrat in Berlin unter Druck: Aktivismus oder Amt?
       
       > Lange galt Florian Schmidt, grüner Baustadtrat in Berlin-Kreuzberg, als
       > Robin Hood der Mieter. Nun gerät er unter Druck. Wofür steht dieser Mann?
       
   IMG Bild: Florian Schmidt bezeichnet sich selbst als „Aktivist im Amt“
       
       Berlin taz | Eine halbe Stunde müssen sie warten, bis er kommt. In der
       Pablo-Neruda-Bibliothek im Berliner Stadtteil Friedrichshain haben sich 50
       Menschen versammelt, deren Häuser an private Investoren verkauft werden
       sollen. In Berlin ist das normalerweise ein Fall für das kommunale
       Vorkaufsrecht. Florian Schmidt, der grüne Baustadtrat des Bezirks
       Friedrichshain-Kreuzberg, auf den sie in der Bibliothek warten, hat dieses
       Instrument aus dem Verwaltungskoffer gepackt und zum Folterinstrument für
       Spekulanten gemacht. Auch deshalb gilt er vielen in der
       3,7-Millionen-Einwohner-Stadt als Robin Hood der Mieter – positiv wie
       negativ.
       
       Doch bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von 13 Häusern, die sich [1][im
       Mai 2019 in der Pablo-Neruda-Bibliothek] treffen, funktioniert das
       Folterinstrument nicht mehr. Mehrere landeseigene
       Wohnungsbaugesellschaften, zu deren Gunsten Schmidt das Vorkaufsrecht
       ausüben wollte, haben abgewinkt. Zu teuer, hieß es. Jeder andere
       Bezirkspolitiker hätte an dieser Stelle aufgegeben. Nicht so Florian
       Schmidt.
       
       Als er nach einer halben Stunde eintrifft, hat er eine neue Idee im Gepäck.
       „Wir müssen andere Möglichkeiten finden, das zu finanzieren“, fordert der
       45-Jährige mit dem rötlichen Vollbart. Schmidt schlägt vor, eine
       Genossenschaft zu reaktivieren, unter deren Dach die 13 Häuser schlüpfen
       können. Statt einer Wohnungsbaugesellschaft soll es also die [2][„Diese
       eG“] richten. Voraussetzung: Die Mieter sind bereit, in die eigene Tasche
       zu greifen, und der Senat gibt einen Zuschuss für den Kauf. Ein auf Kante
       gestricktes Modell, wie sich in den kommenden Monaten zeigen wird.
       
       Eine derart kreative Lösung für ein fast nicht lösbares Problem gehört
       eigentlich nicht zum Stellenprofil eines Bezirksstadtrats. Aber Florian
       Schmidt sieht sich nicht nur als Politiker, sondern als „Aktivist im Amt“.
       Tatsächlich war er in seinem Leben schon Musiker, nennt die aktivistische
       Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, als Vorbild, und vor seiner
       Amtseinführung 2016 hat er die Grundstücke rund um den ehemaligen
       Blumengroßmarkt in Kreuzberg davor gerettet, an die Bieter mit dem
       lukrativsten Angebot verkauft zu werden. Nun sind dort soziale und
       kulturelle Projekte entstanden. Auch die taz profitiert von dieser neuen
       Nachbarschaft.
       
       ## Vorwurf der Aktenmanipulation
       
       Doch Helden drohen ebenso schnell zu fallen, wie sie geboren werden. Auch
       Schmidt könnte so ein Schicksal ereilen – ausgerechnet in diesen Tagen, in
       denen der sogenannte Mietendeckel des rot-rot-grünen Senats als Gesetz
       verabschiedet wird. Ein weiteres vermeintliches Folterinstrument für
       Hauseigentümer und Investoren.
       
       Vergangenen Freitag veröffentlichte die Bezirks-SPD eine Pressemitteilung.
       Überschrift: [3][„Baustadtrat Schmidt gibt Aktenmanipulation zu.“]
       Eigentlich arbeitet die SPD wie im rot-rot-grünen Senat auch im Bezirk mit
       den Grünen zusammen. Doch im Fall der [4][Diese eG, deren Finanzierung
       zwischenzeitlich gehörig wackelte], waren ihr offenbar viele Fragen
       offengeblieben. Sie verlangte Akteneinsicht, bekam sie aber nicht
       vollständig. Schmidt habe dies – allerdings erst nachträglich – in einer
       vertraulichen Sitzung damit begründet, dass er verhindern wollte, dass
       deren Inhalt von CDU, FDP und einer Berliner Tageszeitung für eine Kampagne
       gegen ihn genutzt wird.
       
       Diese Begründung machte es nicht besser. Die Bezirks-SPD nahm Schmidts
       Einlassung zum Anlass, die Vertraulichkeit des Gesprächs zu brechen und dem
       grünen Stadtrat ein Ultimatum zu stellen: Bis 27. Januar müssten alle Akten
       vollständig vorliegen, sonst sei sein Rücktritt „unvermeidlich“.
       
       Seitdem üben sich die Grünen in Krisenmanagement. Noch in der Nacht zum
       Samstag versuchte Florian Schmidt einiges zurechtzurücken. Drei Akten seien
       zurückgehalten worden, teilte er mit. Zwei davon, weil dringende
       öffentliche Interessen dem entgegenstehen, was das Bezirksverwaltungsgesetz
       auch erlaube. Eine andere Akte sei schlicht noch nicht vollständig.
       [5][Argumente, die später auch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg
       vorbrachte].
       
       Doch die [6][Reaktionen waren deutlich]: Die CDU dachte laut über einen
       parlamentarischen Untersuchungsausschuss nach, der Rechnungshof will die
       Akten prüfen, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) sprach von
       „weitreichenden, sehr schwerwiegenden Vorwürfen“ und empfahl eine
       „gründliche Prüfung“. Inzwischen stellt die SPD die „charakterliche
       Eignung“ Schmidts für sein Amt infrage.
       
       ## Formale Fehler versus Schönfärberei
       
       Nur die Grünen stellten sich hinter Schmidt, der sich am Montag für seine
       Aussagen und mehrere „formale Fehler“ öffentlich entschuldigte. Der
       Bezirks-SPD reicht das nicht: „Mit seiner Darstellung der Vorgänge versucht
       er, die ungeheuerlichen Vorgänge schönzufärben“, heißt es in einer
       [7][Mitteilung von Montagabend].
       
       Vor allem zwischen Grünen und der SPD hängt also der Haussegen schief – und
       das nicht nur im alternativen Friedrichshain-Kreuzberg. Denn der Streit
       über die vermeintliche Aktenmanipulation hat eine Vorgeschichte. Viele
       Sozialdemokraten neiden Schmidt, dem Aktivisten im Amt, den politischen
       Erfolg. Das hat auch mit dem Absturz der SPD in der Wählergunst zu tun. Bei
       15 bis 16 Prozent liegt die Partei in Umfragen derzeit – gut ein Drittel
       der bisherigen Abgeordneten käme bei diesem Ergebnis nicht mehr ins
       Parlament. Diese Sorge treibt einige fleißig twitternde Parlamentarier
       offensichtlich mehr um als die gemeinsame Politik und die
       Koalitionsdisziplin.
       
       Die Grünen dagegen haben einen Lauf, liegen in den jüngsten Umfragen bei 23
       Prozent und wären damit stärkste Partei. Sollte die Mietenexplosion in der
       Hauptstadt wahlentscheidend werden, hätte die SPD schlechte Karten. Die
       Grünen mit ihrem inzwischen deutschlandweit bekannten Baustadtrat und die
       Linken mit Bausenatorin Katrin Lompscher haben einfach mehr zu bieten als
       die mit der Immobilienlobby verbandelte Berliner SPD.
       
       Entsprechend hart sind die Bandagen. Als die Grünen im Senat auf die
       Freigabe der zugesagten Fördermittel für die Diese eG drängten, drohte der
       mächtige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD dem Finanzsenator der
       eigenen Partei. „Sollte einer der schon vorhandenen Fälle eine staatliche
       Förderung bekommen, dann werde ich über den Senat kommen wie ein
       Panzerfahrer – unter Ausnutzung jeder rechtlichen Gelegenheit – und mir
       jedes Schriftstück im Senat und in jeder Bezirksverwaltung durchlesen, das
       ich jemals in die Finger bekomme.“
       
       [8][Michael Müller, der glücklose Regierende Bürgermeister der SPD],
       bezeichnet Florian Schmidt derweil spöttisch als „Mini-Robin-Hood“. Dabei
       weiß Müller noch nicht einmal, ob ihn die eigene Partei für die nächsten
       Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2021 noch als Spitzenkandidaten aufstellen
       wird.
       
       ## Übersteht er die politische Krise?
       
       Dass Schmidt nun mit dem Rücken zu Wand steht, hat der grüne Aktivist aber
       auch sich selbst zuzuschreiben. Als nicht immer ganz einfach im Umgang mit
       anderen beschreiben ihn selbst Parteigenossen. Und für seine kreativen
       Lösungen bleiben oft andere Themen auf der Strecke. Man kann es auch so
       sagen: Als Aktivist im Amt entscheidet sich Schmidt im Zweifel eher für den
       Aktivisten als für das Amt. Das aber dürfte, so er die jüngste Krise
       politisch übersteht, bald zu Ende sein. Bereits vor dem Vorwurf der
       Aktenmanipulation hatte Schmidt der taz gegenüber angekündigt, dass die
       Diese eG vorerst keine neuen Häuser kaufen werde. „Sie wird sich jetzt
       konsolidieren.“
       
       Dieser Vorsatz gilt auch für Schmidt selbst: Die Grünen versuchen, ihn
       etwas stärker an die Leine zu nehmen. Die Botschaft ist klar: Nur wenn sich
       Florian Schmidt künftig auf sein Amt konzentriert und den Aktivismus ruhen
       lässt, wird er politisch überleben.
       
       Die Frage ist allerdings, ob diese Rechnung mit dem Wirt gemacht ist. Bei
       einem Gespräch mit der taz Mitte Januar hat Florian Schmidt bereits seine
       weiteren politischen Schritte formuliert. Er spricht von einem
       [9][„Community Land Trust“], um etwa die Spekulation mit Grund und Boden
       einzudämmen.
       
       Auch solche Ideen gehören nicht unbedingt zum Stellenprofil eines
       Bezirksstadtrats. Aber sie gehören zum politischen Selbstverständnis von
       Florian Schmidt. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass der Grüne den
       Aktivisten zugunsten des Amtes aufgibt.
       
       22 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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