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       # taz.de -- Lethargie vor dem drohenden Kollaps: Es lebt sich ungeniert
       
       > Im vergangenen Jahrzehnt haben wir das Klima und die Demokratie in die
       > Notaufnahme eingeliefert. Wir vergnügen uns trotzdem weiter.
       
   IMG Bild: „Vier Beine gut, zwei Beine böse“, blöken die Schafe bei Orwell
       
       Zum Jahreswechsel habe ich George Orwells „Die Farm der Tiere“ wieder
       gelesen. „Ein Märchen“, das ursprünglich als Parabel über den Stalinismus
       gelesen wurde. Das geradezu sprichwörtlich gewordene Blöken der Schafe –
       „Vier Beine gut, zwei Beine böse“ – unterdrückt in entscheidenden
       kritischen Momenten jegliche aufkommende Skepsis, jegliches Infragestellen.
       Wie primitiv, mag sich manch einer denken. Wie gleichgeschaltet. Nur
       möglich in einem totalitären System. Wie gut, dass wir in einer
       pluralistischen Gesellschaft der Meinungsvielfalt leben, wo so etwas nicht
       möglich ist.
       
       Ebenfalls zwischen den Jahren habe ich eine Reihe von Artikeln gelesen, die
       Bilanz ziehen – wie üblich zu solchen Anlässen, zudem, wenn ein neues
       Jahrzehnt ansteht und das alte, gerade zu Ende gegangene, voller
       Turbulenzen war. Einige der Kommentare versuchten sich in Optimismus. Trotz
       aller Sorgen und Unkenrufe, trotz einer weltweiten Depression seien die
       letzten Jahrzehnte, so wurde argumentiert, unterm Strich sehr erfolgreich
       und vor allem für die Armen der Welt gut gewesen.
       
       Zwischen 1980 und 2016 habe sich das Durchschnittseinkommen der untersten
       50 Prozent fast verdoppelt, und die Zahl derer, die von weniger als 1,90
       Dollar pro Tag leben (die von der Weltbank festgelegte Schwelle für
       „extreme Armut“) sei seit 1990 von fast zwei Milliarden auf rund 700
       Millionen gesunken. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit seien
       so viele Menschen so schnell aus der Armut geholt worden (was wenig
       überrascht, da noch nie in der Geschichte so viele Menschen auf Erden
       lebten und daher so viele arm waren).
       
       Die Artikel wiesen auf weitere positive Nachrichten hin, auf die
       Reduzierung der Säuglings- und Kindersterblichkeit, auf den Rückgang der
       [1][HIV-Infektionen], auf die wachsende Zahl jener, die wenigstens die
       Grundschule besuchen. Auf Länder, in denen das Bevölkerungswachstum
       überraschend stark abgeflaut ist. Die Optimisten vertrauen auf die Evidenz
       der Zahlen, nach dem Vorbild der erfolgreichsten Verkünder unter ihnen, der
       Bestsellerautoren Hans Rosling und Steven Pinker. Und gewiss: Die von ihnen
       reichlich herbeizitierten Ziffern geben Anlass zu Zuversicht.
       
       ## Verselbständigte Krisen
       
       Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich aber auch zwei Bücher gelesen,
       deren Titel eine ganz andere Sicht der menschlichen Entwicklung
       postulieren: „It’s Even Worse Than You Think“ von David Cay Johnston und
       „The Uninhabitable Earth“ von David Wallace-Wells (auf Deutsch erschienen
       unter dem Titel [2][„Die unbewohnbare Erde“]). Schon die
       Kapitelüberschriften lassen jeglichen Optimismus erblassen: „Hitzetod,
       Hunger, Ertrinken, Flächenbrand“. Gefolgt von „sterbende Meere“ „verpestete
       Luft“ sowie „wirtschaftlicher Kollaps“. Die „Klimakonflikte“ nicht zu
       vergessen.
       
       So weit eine Auswahl von Themen aus dem ersten Kapitel. Beide Bücher
       basieren auf solider, seriöser Recherche. Die reichlich herbeizitierten
       Zahlen sprechen eine eindeutige, geradezu apokalyptische Sprache. Die
       [3][dramatischen Prognosen] über eine bedrohlich nahe Zukunft sollen die
       Leserinnen vermutlich aufrütteln, aber sie wirken abgenutzt, wie ein
       eigentlich unerträgliches Pfeifen, das wir kaum mehr wahrnehmen.
       
       Denn die Krisen haben sich längst verselbständigt, während der globale
       neoliberale Kapitalismus sich zugleich in jede Nische unserer Existenz
       eingenistet hat. Das letzte Jahrzehnt war zweifellos eine Epoche der
       Krisen. Wir haben die Demokratie und das Klima in die Notaufnahme
       eingeliefert, wir haben dem Nationalismus und dem Datenmissbrauch Tür und
       Tor geöffnet. Und trotzdem lebt es sich ungeniert weiter. Mit
       konsumatomischer Resilienz vergnügen wir uns über jede ungelöste Krise
       hinweg.
       
       ## Stagnation der Politik
       
       Denn Krisen sind keine Katastrophen – die finden im Globalen Süden statt,
       bei uns hingegen nur in den literarischen und filmischen Dystopien, mit
       denen wir uns gegen die realen Viren jenseits der Bildschirme impfen. Tief
       im Inneren glauben wir nicht, dass sich unsere Krisen zur Katastrophe
       auswachsen werden. Anders ist unser Langmut nicht zu verstehen, ebenso
       wenig die völlige Stagnation der Politik: Man vergleiche nur die
       bedrohlichen Nachrichten der letzten zehn Jahre mit den politischen
       Reaktionen in derselben Zeit.
       
       Wir tun seit einer Generation so, als könnten wir alles haben, endloses
       Wachstum und nachhaltiges Wirtschaften, ein waches Bewusstsein bei
       gleichzeitigem Verschließen der Augen. Die Spannung zwischen der Lethargie
       vor dem drohenden Kollaps und dem Gefühl eines möglichen und notwendigen
       Aufbruchs ist mit allen Sinnen greifbar, sie ist gewaltig, sie wird sich in
       nächster Zeit mit Sicherheit entladen.
       
       Denn eines ist gewiss: In dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben
       wir das zeitweilig allmächtige Konzept vom „Ende der Geschichte“ oder
       anders gesagt von der Alternativlosigkeit des herrschenden neoliberalen
       Kapitalismus endgültig begraben – zugunsten zweier divergierender,
       drängender Erzählungen: dem Ende unserer Humanität oder dem Ende des
       Kapitalismus. Kaum einer bezweifelt, dass die existierenden Strukturen vor
       unseren ermatteten Augen allmählich zerfallen.
       
       Zu laut ist das weiße Rauschen von Brexit und Trump, von Oligarchie und
       Korruption, von Panama Papers und Luanda Leaks (das neue Jahrzehnt beginnt
       nämlich so wie das letzte, mit Enthüllungen über Netzwerke unvorstellbaren
       Betrugs). Schon im ersten Monat des neuen Zeitabschnitts wissen wir mit
       bitterer Entschiedenheit, dass es zukünftig nicht mehr möglich sein wird,
       einfach so weiterzumachen, und ahnen zugleich, dass wir so weitermachen
       werden wie bislang.
       
       Die Schafe blöken weiter, nur sind sie sich – anders als auf der Farm der
       Tiere – nicht einig. Mal ist zu hören „Vier Beine gut, zwei Beine böse“,
       mal „Vier Beine böse, zwei Beine gut“, mal „Vier Beine gut, zwei Beine
       gut“, mal „Vier Beine böse, zwei Beine böse“. Wir haben Meinungsvielfalt –
       es wird alles gut.
       
       26 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Drogenexperte-ueber-Entkriminalisierung/!5603529
   DIR [2] https://www.ndr.de/kultur/buch/Die-unbewohnbare-Erde-von-David-Wallace-Wells,wallace132.html
   DIR [3] /Klimawandel-und-Migration/!5651072
       
       ## AUTOREN
       
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