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       # taz.de -- Anerkennung von vergessenen NS-Opfern: Zwangsumsiedlung ins Familien-KZ
       
       > „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ werden bislang nicht offiziell als
       > Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Das soll sich ändern.
       
   IMG Bild: Die Bremer Siedlung am Warturmer Platz wurde von den Nazis als Familien-KZ für „Asoziale“ geplant
       
       Bremen taz | Der Saal der historischen Bremer Villa Ichon ist an diesem
       Montagabend voll. Im Nebenzimmer wird mit Stühlen angebaut. Die
       Aufmerksamkeit gehört jenen, die sie sonst selten bekommen – zwei lange
       vergessene Opfergruppen des NS-Regimes sollen ihre Anerkennung bekommen. In
       den Köpfen der Menschen und ganz offiziell auf Bundesebene: Die als
       „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten sollen in die offizielle
       Erinnerungskultur aufgenommen werden. Darüber will im Februar der Bundestag
       entscheiden.
       
       Rund 70.000 Menschen gehörten diesen beiden Opfergruppen an, etwa ein
       Drittel starb in Konzentrationslagern. Sie wurden „durch Arbeit
       vernichtet“. Es waren vor allem Mittel- und Obdachlose, Alkoholkranke und
       Kleinkriminelle, die in den Augen der Nazis als „Schmarotzer“ und
       „Ballastexistenzen“ galten. Ihre Gene sollten aus der arisch-deutschen
       Gesellschaft gesäubert werden.
       
       Bremen nahm eine bedeutende Rolle in dieser „Gesellschaftssäuberung“ ein.
       Die Stadt investierte 1936 allein 600.000 Reichsmark in das Familien-KZ
       Hashude im Stadtteil Woltmershausen. Der Posten im Bremer Haushalt für
       Wohnungsbau lag im selben Jahr bei nur 350.000 Mark. Das Geld für den Bau
       der Siedlung war größtenteils durch den Wegfall von Fürsorge von sozial
       schwachen Familien eingespart worden, die als „Asoziale“ nach Hashude
       zwangsumgesiedelt wurden: Rund 500 Menschen, die auf engem Raum lebten,
       jede Familie hatte rund 40 Quadratmeter zur Verfügung, jeder Winkel des
       Geländes wurde permanent überwacht, und bei ungünstiger erbbiologischer
       Prognose wurden BremerInnen zwangssterilisiert.
       
       Doch das Leid der Opfer endete nicht mit dem Ende des Kriegs 1945. „Bis
       heute liegt ein gefährliches Stigma auf diesen Menschen.“ Der emeritierte
       Professor für Politische Bildung [1][Frank Nonnenmacher] ist zu Gast in der
       Villa Ichon und weiß, wovon er spricht. Er ist der Neffe eines Häftlings,
       der vier Jahre lang im Konzentrationslager war und überlebte. Der Winkel
       auf der Sträflingskleidung seines Onkels war zuerst schwarz für „Asoziale“,
       später wurde er „umgewinkelt“ zu einem „Berufsverbrecher“ mit grünem
       Winkel. Er war zuvor für zweieinhalb Jahre in einer „regulären“
       Strafanstalt gewesen, um seine Haftstrafe nach einem versuchten Diebstahl
       in einer Bäckerei abzusitzen. Nach abgesessener Strafe kam er allerdings
       nicht frei, sondern wurde von der Gestapo in das KZ Flossenbürg gebracht.
       
       ## Das Stigma blieb
       
       Menschen wie er wurden aufgrund ihrer Winkelfarbe als „Asoziale“ oder
       „Berufsverbrecher“ oft von anderen Häftlingen diskriminiert und
       ausgegrenzt. „Auf ihnen lastete der Vorwurf, dass sie durch ihren
       kritikwürdigen Lebensstil 'zu Recht’ im KZ seien“, erzählt Nonnenmacher.
       Ein Vorwurf, der auch nach dem Krieg weiterhin in der Luft schwebe. Weder
       „Asoziale“ noch „Berufsverbrecher“ gründeten Opfergruppen, sie verlangten
       keine Entschädigungen oder traten öffentlich auf. „Sie hatten die Vorwürfe
       verinnerlicht und schämten sich, als 'echter Verbrecher’ im KZ gewesen zu
       sein“, so Nonnenmacher. Sein Onkel habe erst nach 30 Jahren zum ersten Mal
       über seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs gesprochen.
       
       2016 initiierte Nonnenmacher nach langer Recherche eine Petition, in der er
       den Bundestag dazu aufforderte, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer
       des Nationalsozialismus anzuerkennen. Bis heute haben den Appell über
       22.000 Menschen unterschrieben.
       
       Zu den ErstunterzeichnerInnen gehört auch die Bremer Bundestagsabgeordnete
       Kirsten Kappert-Gonther (Grüne). Sie erläuterte am Montag den Antrag der
       Grünen zu dem Thema – einer von aktuell vier konkurrierenden
       Parteianträgen, mit denselben Forderungen an den Bundestag: „Die Aufnahme
       der sogenannten ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrecher‘ in die offizielle
       Erinnerungskultur“. Sie habe mit anderen Parteien einen gemeinsamen Antrag
       einreichen wollen, so Kappert-Gonther, doch aus konservativen Reihen hätte
       es Widerstand gegeben und den Zweifel, ob man damit nicht auch
       Schwerverbrecher rehabilitieren würde.
       
       Dieser Gedanke spiegelte sich auch in einer anderen Debatte: Der
       Stolperstein-Künstler Gunter Demnig sollte 2016 die ersten Stolpersteine
       zum Gedenken an „Asoziale“ verlegen. In manchen Fällen benutzte er bei
       „Asozial“ keine Anführungszeichen. Ein fataler Fehler sei das, merkte eine
       Angehörige am Montag an. Damit würden die Opfer weiterhin gedemütigt und
       ihre Deportation gerechtfertigt. „Niemand war zu Recht im
       Konzentrationslager“, sagt Kappert-Gonther. „Hinter diesen Satz gehört ein
       Punkt und kein Aber.“
       
       Im Februar soll nun in einer Plenarsitzung über den letzten Antrag von SPD
       und CDU/CSU entschieden werden, in ihm spielen auch Entschädigungen eine
       Rolle. Doch um Geld geht es nicht. Frank Nonnenmacher betont, dass die
       vieldiskutierte materielle Entschädigung dieser Opfer des
       Nationalsozialismus überflüssig sei: Die meisten sind bereits tot und das
       lebenslange Schamgefühl und der soziale Ausschluss dieser Menschen lasse
       sich mit nichts „entschädigen“, so Nonnenmacher.
       
       22 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR Sophie Lahusen
       
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