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       # taz.de -- Wahlrechtsreform für den Bundestag: Parlamentarischer Hefeteig
       
       > Seit Jahren diskutieren die Fraktionen, den aufgeblähten Bundestag zu
       > verkleinern. Die Zeit drängt. Was macht die Einigung so schwierig?
       
   IMG Bild: Reicht der Platz? Im Bundestag mussten nach vergangenen Wahlen stets neue Stühle aufgebaut werden
       
       Berlin taz | An Vorschlägen für eine Wahlrechtsreform herrscht kein Mangel.
       Allerdings gibt es bisher für keine der Ideen eine Mehrheit. Die taz
       erklärt die Hintergründe:
       
       Wofür braucht es überhaupt eine Wahlrechtsreform? 
       
       Der Bundestag platzt aus allen Nähten. In dieser Legislaturperiode sitzen
       709 Abgeordnete im Parlament. Laut Wahlgesetz sollen es nur 598 sein. 299
       Abgeordnete werden in den 299 Wahlkreisen direkt gewählt, die anderen
       ziehen über die Landeslisten der Parteien ein.
       
       Das Problem: Erhält eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem
       Zweitstimmenergebnis zustehen, darf sie diese als Überhangmandate behalten.
       Die anderen Parteien erhalten Ausgleichsmandate, damit das
       Zweitstimmenverhältnis abgebildet wird. So bläht sich der Bundestag immer
       weiter auf – wie ein Hefeteig auf der Heizung.
       
       Ist das schlimm? 
       
       Zu viele Abgeordnete, das ist teuer und ineffizient. Entscheidungen zu
       treffen wird umständlicher, die Arbeitsatmosphäre im Parlament leidet, der
       Platz im Reichstag und in den Ausschüssen wird knapp. Eine Verkleinerung
       sei nötig, um das Parlament arbeitsfähig zu halten, argumentierte
       Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann.
       
       Die Bundestagsverwaltung hat nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen
       Zeitung im September 2019 berechnet, welchen Raumbedarf 850 Abgeordnete
       hätten. Eine solche Zahl ist, setzt sich der Aufwuchs fort, nicht
       unrealistisch. Ergebnis: Allein 111 Millionen Euro fielen pro Jahr
       zusätzlich für Diäten, Mitarbeiter und Fraktionen an – in einer
       Legislaturperiode von vier Jahren also fast eine halbe Milliarde Euro. 300
       bis 320 zusätzliche Büros wären nötig, im Plenum und in Sitzungsräumen
       würde es eng.
       
       Sehen die Fraktionen das Problem? 
       
       Eigentlich sind sich alle Fraktionen einig, dass sich die Zahl der
       Abgeordneten wieder stärker am Wahlgesetz orientieren sollte. An Warnungen
       mangelt es nicht. Ein Scheitern der Wahlrechtsreform hätte einen „riesigen
       Glaubwürdigkeitsverlust“ zur Folge, sagte Thomas Oppermann. Sie wäre ein
       „Armutszeugnis“, sagte Christian Lindner (FDP). Und Bundestagspräsident
       Wolfgang Schäuble (CDU) drängte: „Ich finde, im Interesse der Verantwortung
       aller Parteien, Fraktionen und jedes Abgeordneten für das Ansehen der
       demokratischen Institutionen muss uns das gelingen.“
       
       Warum gibt es dann bis heute keine Einigung? 
       
       Weil die Fraktionen unterschiedliche Interessen haben. Eine von Schäuble
       eingesetzte Arbeitsgruppe tagte eineinhalb Jahre lang und scheiterte im
       Frühjahr vergangenen Jahres ergebnislos. [1][Grüne, FDP und Linke legten
       daraufhin im Oktober einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor.] Er sieht vor,
       die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu verringern, was die Zahl der
       Direktmandate verringern würde. Außerdem soll die reguläre Sitzzahl im
       Bundestag auf 630 erhöht werden.
       
       „Es führt kein Weg an der Verkleinerung des Bundestags vorbei“,
       argumentierte Friedrich Straetmanns, Justiziar der Linke-Fraktion, bei der
       Vorstellung. „Das sieht ein übergroßer Teil der Bevölkerung so und das
       sehen wir so.“ Die Folge: Die aktuell gültigen Wahlkreise würden etwas
       vergrößert. Abgeordneten fiele es also schwerer, den Kontakt zu Menschen in
       ihrem Heimatwahlkreis zu halten. Union und SPD sperren sich gegen die Idee.
       
       Warum lehnt die Groko den Oppositionsentwurf ab? 
       
       Aus inhaltlichen und machttaktischen Gründen. CSU-Chef Markus Söder sprach
       sich neulich dagegen aus, die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten im
       Bundestag zu verringern. Es sei undemokratisch und nicht akzeptabel, wenn
       ein gewonnener Wahlkreis nicht zugeteilt werde, sagte Söder am Montag laut
       Teilnehmern im CSU-Vorstand. Allerdings betonte er, dass die CSU nicht
       generell dagegen sei, die Zahl der Bundestagsmandate zu verringern.
       
       Dahinter steckt auch strategisches Kalkül. Bei der Bundestagswahl 2017
       holte die CSU von 46 Direktmandaten 46. Weniger Wahlkreise würden für sie
       weniger Mandate im Bundestag bedeuten. Das gilt auch für die CDU: Von ihren
       200 Abgeordneten zogen 185 per Direktmandat in den Bundestag ein, nur 15
       über die Landeslisten. Die SPD kam auf 59 Direkt-, aber 94 Listenmandate.
       Die kleineren Parteien profitierten kaum von Direktmandaten. Die Linke
       holte 5, die AfD 3 und die Grünen 1.
       
       Die Grüne Haßelmann betonte aber, dass der Oppositionsplan alle fair
       behandle. „Dieser Vorschlag trifft alle Fraktionen proportional gleich.“
       Man müsse natürlich auch sehen, fügte sie hinzu, dass die Union sich bisher
       nicht damit abfinde, „dass wenn man 29 Prozent der Stimmen erzielt, auch
       nur für 29 Prozent in den Bundestag einrücken kann“.
       
       Was will die Union? 
       
       Das bleibt etwas nebulös. „Wir sind im Moment noch nicht in einer
       Situation, dass wir schon konkret auch eine Festlegung im Präsidium
       getroffen hätten“, sagte neulich CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
       Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) hatte im vergangenen April schon
       einen „Deckel“ bei etwa 630 Mandaten ins Spiel gebracht.
       
       Die CSU wirbt für eine Höchstgrenze von 650 Mandaten im Bundestag, sie will
       aber die 299 Wahlkreise beibehalten. Zum Jahreswechsel machten 23
       Abgeordnete von CDU und CSU einen Vorstoß für einen 598 Parlamentarier
       starken Bundestag – 299 direkt gewählt, 299 über die Zweitstimme nach
       Verhältniswahlrecht. Solche Modelle würden Parteien bevorzugen, die viele
       Direktmandate erringen.
       
       Schäuble hatte im vergangenen Jahr vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise
       moderat von 299 auf 270 zu verringern und bis zu 15 Überhangmandate nicht
       mehr auszugleichen. Diese Idee scheiterte am Widerstand der kleineren
       Fraktionen, von ihr ist inzwischen keine Rede mehr.
       
       Wie geht es weiter? 
       
       Die Lage ist einigermaßen verfahren. Aber der Druck auf alle Beteiligten
       ist groß. Es ist vorhersehbar, dass die AfD ein Scheitern der Reform als
       Versagen der angeblichen Systemparteien geißeln würde. Und die Zeit ist
       knapp. Im Frühjahr beginnen die Parteien mit dem Prozess der
       Kandidaten-Aufstellung für die Bundestagswahl 2021. Wenn man Wahlkreise neu
       zuschneiden wollte, wie es Grüne, FDP und Linke fordern, müsste man das
       entsprechende Gesetz rasch beschließen.
       
       Falls eine Reform in dieser Legislaturperiode scheitert, wäre in jedem Fall
       vorgesorgt. Die Verwaltung des Bundestags hat laut Schäuble beim
       zuständigen Bauamt in Berlin bereits eine [2][Genehmigung zum Aufbau von
       Containern beantragt], um nötigenfalls auch mehr als 800 Abgeordnete und
       ihre Mitarbeiter unterbringen zu können. Abgeordnete im Containerdorf, das
       wäre jedenfalls mal etwas Neues.
       
       22 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/der-bundestag-ist-zu-gross-gemeinsamer-vorschlag-zur-wahlrechtsreform-der-fraktionen-die-linke-buen/
   DIR [2] https://www.deutschlandfunk.de/bundestagspraesident-wolfgang-schaeuble-legislaturperiode.868.de.html?dram%3Aarticle_id=465793
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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