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       # taz.de -- Schwermut im finnischen Winter: Wenn es fast nur dunkel ist
       
       > Turku liegt im Südwesten Finnlands. Mit bunten Farben und viel Kunstlicht
       > versucht die Stadt die miese Stimmung zu vertreiben.
       
   IMG Bild: Polarlicht über Finnland
       
       Janne Auvinen kneift die Augen zusammen, als würde ihn die Sonne blenden,
       dabei ist es ein dunkler Wintertag, an dem er mit Fellmütze und buntem
       Schal und dicken Handschuhen über die Fußgängerbrücke des Aura-Flusses
       stiefelt. Die Häuser liegen im Dunkeln, die Bäume sind nur eine Ahnung am
       schwarzen Nachthimmel. Er steht auf der Bibliotheksbrücke, im Rücken den
       Vartiovuori-Park, der älteste übrigens von Finnland. Vor ihm die
       Stadtbibliothek, dahinter das Zentrum mit Markt. Es ist 15 Uhr. Und wieder
       ist es dunkel, gefühlt wurde es nie richtig Tag, selbst am Mittag sah die
       Sonne matt wie hinter einer Milchglasscheibe aus.
       
       Janne prüft die Leuchtstrahler der Brücke, die er alle paar Meter am
       metallenen Geländer angebracht hat. Bei Einbruch der Dunkelheit leuchtet
       die ganze Brücke im zarten Violett. Der Mann, ein Lichtdesigner, erhellt
       mit dieser Überdosis Kilowatt die Stadt – und die Gemüter. „Im Moment gibt
       es nur fünf Stunden Tageslicht, das macht schwermütig. Da muss nachgeflutet
       werden!“, so der 55-Jährige.
       
       Die 180.000-Einwohner-Stadt Turku ganz im Südwesten Finnlands, wo der Wald
       in einzelne Inseln ausfranst und die Schärengebiete beginnen, liegt zwar
       immer noch gut 800 Kilometer südlich des Polarkreises, aber jetzt, im
       November, hat der Winter die Gegend fest im Griff. Eisschollen tanzen auf
       dem Fluss, die Wolken hängen tief, die tiefstehende Sonne hat wenig
       Chancen. Auf den Loipen sprinten die Langläufer unter Laternen, die
       Eisläufer ziehen ihre Runden im Flutlicht der künstlichen Eisbahnen des
       Sportstadions Paavo Nurmi.
       
       Läden, Häuser, Bibliotheken, Kneipen sind hell erleuchtet, Straßenschilder
       und Bäume werfen Schatten auf die Straßen und Gehwege. 876 Farben der
       Dunkelheit. Mit Lichtinstallationen, viel Kunst und lustigen Aktionen die
       langen Nächte bespielen: das war Jannes Idee, ausgeheckt an einem der
       Kneipenabende, die im winterlichen Turku schon früh beginnen und endlos
       dauern. „Dunkel ist nicht gleich dunkel, es gibt so viele Schattierungen.
       Und, wenn es zu dunkel ist, wie an dieser Brücke, braucht es manchmal auch
       ein bisschen Licht!“
       
       ## Das neue Konzept
       
       Es folgte ein handfestes Konzept, der Rest war Glück: 2011 bekam Turku den
       europäischen Kulturhauptstadtstatus, da flossen Gelder für Konzepte, die
       sonst in den Schubladen der Behörden verschimmeln. „Wer ein echter Finne
       ist, wie ich, der braucht Ausdauer“, sagt Janne: „Und Humor natürlich.
       Schrägen Humor am besten.“
       
       Warum 876 Farben, wurde Janne gefragt. – Warum nicht? war seine Antwort.
       Eine Fantasiezahl. Und warum Licht, wenn er doch die Dunkelheit feiert? Man
       muss nicht alles erklären. Der Mann mit dem Charisma eines lustigen
       Schankwirts lacht laut auf und klopft sich auf seinen festen Bauch.
       
       Das Projekt endete nach zwölf Monaten. Zumindest offiziell. Aber Jannes
       Idee wurde zum Selbstläufer und zu einer winterlichen Attraktion in
       Finnland. Häuserfassaden, Straßen, Parks, Gehwege, Brücken, das Schloss aus
       dem 13. Jahrhundert strahlen seither schon am Nachmittag im Kunstlicht, das
       Theaterfoyer leuchtet sogar die ganze Nacht.
       
       Janne steht jetzt am Ende der Brücke, holt sein Handy heraus. Zu den
       jeweiligen Lichtinstallationen gibt es eine App mit Musikvorschlägen: Er
       drückt den Button Heavy Metal, wählt Stratovarius, seine Lieblingsband.
       Wirbelnde Schlagzeugsoli, quietschende Bässe der E-Gitarre, kräftige
       Synthesizer. Stratovarius ist so was wie Rammstein des Nordens, ein
       musikalisches Aufputschmittel, ein Sound, der Stimmungstiefs wegknallt und
       die Seele erfrischt.
       
       ## Licht auch durch Humor
       
       Es braucht harten Stoff, um die Zeit von November bis März gut zu
       überstehen. „Wenn du Kopfschmerzen hast, sind die auch sofort weg, wenn dir
       jemand mit einem Hammer auf den Zeh haut“, sagt Janne. Selbst Kinder werden
       frühzeitig an Hard Rock gewöhnt, denn im Winter wirken zärtelnde
       Schmusesongs wie klebrig-süße Dauerlutscher.
       
       Vielleicht ist es genau das, was Turku im Winter so spannend macht: dieses
       Abseitige, Verrückte, dass sich eine ganze Stadt mit viel Humor den
       lichtlosen Monaten entgegenstemmt. Als ob die Turkuer auf Jannes Impuls nur
       gewartet hätten, übertrumpft sich die Stadt inzwischen mit einer Art
       Guerilla-Beleuchtung. Bäume funkeln mit umwickelten Lichtergirlanden, die
       Kabel hängen aus einer Wohnung im ersten Stock.
       
       In den Toreingängen baumeln bunte Lampions über Fahrrädern und
       Kinderwagen, Lichtschranken an den Häusern knipsen Spots an. Und zu alledem
       blitzen an Pfosten, Hausmauern, Schildern Reflektoren in der Dunkelheit
       auf, auch an den Turkuern selbst, die so viel Licht nehmen, wie sie kriegen
       können, Reflektoren hängen an ihren Taschen in Form von Blumenanhängern,
       an den Jacken und Hosensäumen, als reflektierende Wolle in Schals und
       Mützen verwebt.
       
       Turku ist eher so etwas wie eine Liebe auf den zweiten Blick. Mit weißen
       Ornamenten verzierte Jugendstilhäuser stehen neben schmucklosen
       Betonbauten, geduckte Holzkaten mit roten Fensterläden unweit
       abgeschubberter 70er-Jahre-Hochhäuser. Mehrere Stadtbrände und russische
       Zweite-Weltkriegs-Bomben hatten einst Kerben in das Zentrum geschlagen. Die
       Lücken wurden Jahrzehnte, Jahrhunderte später geschlossen. Ein
       stadtplanerisches Durcheinander.
       
       ## Lust auf Süßes
       
       Warmes Licht fällt auf den Bürgersteig des bis auf den letzten Winkel
       ausgeleuchteten Kauppatori-Platzes. Wie unwirklich das ist, merke ich mit
       Blick zum Himmel. Der ist nachtschwarz. Ab in die Markthalle. Ein über
       hundert Jahre altes Gebäude. Lange Gänge, Krämerläden mit Postkarten,
       Wolle, Blumen, Lampen. Am Fleischstand, da stehen die Leute an:
       Rentiercremesuppe zum Mitnehmen.
       
       Draußen vor der Tür stoppt ein Bus, der Fahrer schaltet die Anzeige ein:
       „Kaffepaussi“, steigt aus, geht ins „Café Mbackery“, bestellt
       Heidelbeertorte. Die Frau am Nebentisch ist Verkäuferin im Marimekko-Shop
       am Marktplatz. Man kommt ins Plaudern. „Ach, diese Lust auf Süßes im
       Winter! Danach habe ich zwei Kilo mehr auf der Waage. Egal, tut gut gegen
       Schwermut“, sagt Saara Jonas. Die blonde Frau mit pausbäckigem Gesicht
       stützt den Kopf in die Hände. Zwei Kinder, stressiger Job, der Mann im
       Moment wenig unternehmungslustig. Mit Kuchen, Tageslichtlampen,
       Vitamin-D-Pillen, Kanaren-Urlaub im Januar stemmt sie sich gegen die
       Dunkelheit, aber „was zu viel ist, ist zu viel. Manchmal hänge ich eben
       einfach durch.“
       
       Hat auch was Gutes, findet Saara: Melancholische Zeiten schärfen den Geist.
       Entscheidungen für große Anschaffungen trifft sie zum Beispiel in der
       Winterzeit. Ihre Wohnung kaufte die 40-Jährige, als sie trübsinnig war: „Da
       prüfe ich genauer, bin besonnener als im Sommer.“ Der Winter sei wichtig,
       da er die Seele ausbalanciere. Sie trinkt ihren Likör aus, der ist
       rubinrot, wie die Farbe auf dem Marimekko-Stoffmuster ihres Taschentuches,
       und verschwindet in der Nacht.
       
       Hinter den verschneiten Dächern leuchtet ein riesiger Würfel, vom Boden bis
       zum Dach ist die komplette Fassade des modernen Anbaus der Stadtbibliothek
       verglast. An Schreibtischen blättern die Menschen in Zeitschriften und
       dicken Almanachen. Eine ältere Dame mit Kopfhörer strickt. Die Lesesäle
       sind proppenvoll. Zwei Frauen am Eingang ziehen ihre Stiefel aus und
       staksen auf Wollsocken zu den Bücherregalen.
       
       ## Und am Wochenende Sauna
       
       „In dicken Botten kann ich nicht denken“, sagt die eine. „Auch im Büro ist
       es nicht ungewöhnlich, auf Strümpfen zu laufen“, ergänzt die andere. Die
       moderne Bibliothek mit viel Eichenholzwänden und Glas ist jetzt im Winter
       quasi das Wohnzimmer von Turku, ein Zwischenstopp nach einem
       Geschäftstermin, vor dem Einkauf oder nach Schulschluss – auch wegen der
       vielen Tageslichtlampen, die hier nach Jannes Vorschlag installiert wurden.
       Während man in unseren Lesesälen böse Blicke erntet, wenn ein Stift zu
       Boden fällt oder man sich unterhält, ist die Atmosphäre hier deutlich
       entspannter. Man trifft hier Freunde oder Kollegen, und wenn es zu viel zu
       erzählen gibt, gehen sie ins Café nebenan.
       
       Ein Tipp von der Bibliothekswandzeitung: die Sauna auf Ruissalo, einer
       Schäreninsel. Dahin fahren die Turkuer am Wochenende, wenn ihnen die
       heimische Sauna, die zu jedem Haus dazugehört, zu langweilig wird. Der Bus
       am nächsten Tag braucht keine halbe Stunde, schaukelt durch die karge
       Winterlandschaft, Straßenschilder warnen vor Elchen, eine Brücke verbindet
       Ruissalo mit dem Festland.
       
       Ein schmaler Streifen letztes Sonnenlicht taucht den Horizont am
       Saaronniemi-Strand in Orangerot, das sich in der Ostsee widerspiegelt.
       Zwischen den verriegelten Sommerfrischehäusern steht eine kleine
       Saunahütte. Heute ist Frauentag. Die Damen hocken auf der obersten Bank,
       allesamt in Badeanzug, mit Mütze und Handschuhen. Bei 100 Grad. Eine steigt
       herab, gießt Wasser auf die glühenden Steine. Es gibt kein Aroma, kein
       Birkenreisig, keinen Ruheraum. Irgendwann schlüpfen alle Damen in ihre
       Badeschuhe, ziehen die Mütze tiefer in die Stirn und schreiten zur Tür.
       
       Im Gänsemarsch geht es auf dem Steg entlang zur Treppe am Meer. Die Körper
       dampfen. Eine nach der anderen taucht zwischen den Eisschollen ab, lacht
       und prustet, bei 2 Grad Celsius!
       
       Wie herrlich dunkel alles ist. Dann – ganz langsam – überziehen flimmernde
       grüne Schleier den Himmel. Polarlichter! Sie falten sich auf, schlagen
       Wellen, werden zu Fransen, verschwinden wieder. So wie die Frauen nach dem
       Saunabesuch.
       
       29 Jan 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Birgit Weidt
       
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