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       # taz.de -- 1968 und das Ich: Hello again
       
       > Howard Carpendale sang darüber, wie er ein Jahr verschwand und geläutert
       > zurückkam. Was man daraus von ihm lernen kann? Allein geht es nicht.
       
   IMG Bild: Howard Carpendale singt ein Lied
       
       Ein Jahr lang war isch ohne disch / isch brauchte diese Zeit für misch. 
       
       Diese Eingangsverse von Howard Carpendales Eighties-Popsong [1][„Hello
       again“] haben mich immer beschäftigt. Wie überhaupt der ganze Plot, wo
       Howie sich ein Jahr in der Weltgeschichte herumgetrieben hat, eines Nachts
       zurückkommt zu der über alles geliebten Frau, und zwar mit den lapidaren
       Worten: „Uhuhuhuhu, isch sag nur Hello again“. Beziehungsweise, es ist
       nicht ganz klar, ob er es tatsächlich sagt oder nur vorhat, es zu sagen,
       wenn sie sich wiedersehen, da, wo alles begann, also „dort am Fluss, wo die
       Bäume stehen“.
       
       Aus Sicht der geliebten Frau könnte sich womöglich die Frage stellen: Wozu
       zur Hölle musste der Typ ein Jahr in die Welt ziehen? Und jetzt sagt er
       „Hello again“, und das isses?
       
       Tja, damit war die Liberalisierung von 1968 fünfzehn Jahre später im
       deutschsprachigen „Schlager“-Pop angekommen und also ganz breit in der
       Gesellschaft. Hier sind wir nun aber bei der normativen Schwäche unserer
       Hyperkultur in der Spätmoderne, die der Soziologe Andreas Reckwitz in der
       „Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt.
       
       Die Befreiungsbewegung von 1968 gegen kulturelle und soziale Regulierung
       hat uns auf die rastlose Suche nach Einzigartigkeit geschickt. Besondere
       Reisen, besonderes Essen, besondere Freunde, besonderer Klodeckel, alles
       muss besonders sein. Genau das hat Howie offenbar in dem Jahr gesucht;
       Erlebnisse, Eindrücke und kulturelle Güter, die ihm kosmopolitische
       Singularität verleihen sollten. Jenseits des „Normalen“, zu dem auch die
       geliebte Frau zu gehören schien.
       
       Man sagt gern, man habe sich selbst gesucht, aber die Annahme ist irrig,
       dass da a priori etwas sei. Man kann sich nicht finden, nur entwickeln.
       Dazu muss man etwas reingeben, das ist schon wichtig. Aber die
       emanzipatorische Selbstentwicklung kann sich auch auf oberflächliche
       Selbstentfaltung reduzieren – und sie hat einfach Kollateralschäden
       verursacht, denen wir uns jetzt stellen müssen. Mehr „ich“ hat zu weniger
       „wir“ geführt.
       
       Das ist kein Plädoyer für kulturelle, religiöse oder nationalistisch- bzw.
       sozialistisch-totalitäre Kollektive, um Gottes willen. Aber wer sich
       krampfhaft unterscheiden will, kann nicht oder nur schwer auf etwas
       Gemeinsames zielen; das ist der zentrale Widerspruch der dysfunktionalen
       linksliberalen oder auch „grünen“ Hyperkultur des letzten Jahrhunderts.
       
       Um es klar zu sagen: Das geht so nicht, dass man ein Jahr abhaut wie Howie,
       weil man die Zeit für sich braucht. Das ist nicht liberal, das ist
       unmündig. Die Individualisierung ist eine aufklärerische Errungenschaft,
       aber die damit verbundene Freiheit muss mündig gelebt werden, und das
       bedeutet in gelebter Verantwortung gegenüber besonderen Menschen und auch
       dem großen Ganzen.
       
       Vor allem aber: Ein besonderes Ich werden und sein kann man doch nur in der
       gelebten Zeit mit der Frau – und nicht ohne sie. Das ist der Grund, warum
       Howie plötzlich vor ihrer Tür steht und der verschärften Singularisierung
       abgeschworen hat. Er will jetzt „für immer bleiben“ und weiß: „Das kann
       isch nicht allein entscheiden.“
       
       Bindung und Abhängigkeit! Er hat’s kapiert. Früher hätte man das
       „konservativ“ genannt. Heute ist es State of the Art. Zukunft schaffen wir
       nur in der Akzeptanz der eigenen Abhängigkeit von anderen. Und in der
       Verpflichtung zum Gemeinsamen einer demokratischen Gesellschaft. Das müssen
       jetzt nicht Songs von Howard Carpendale sein. Das Grundgesetz ist da ein
       guter Anfang.
       
       Wer nur „ich“ ist, der ist nichts.
       
       1 Feb 2020
       
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