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       # taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Der Autor sucht nach neuen Wegen
       
       > Wer mal eine Zeit durch's Leben humpeln muss, macht am eigenen Leib die
       > Erfahrung, wie man behindert wird, wenn man bewegungseingeschränkt ist.
       
   IMG Bild: Kriminell: Gehweg in Friedrichshain
       
       Wie mühsam es ist, sich auf zwei Gehstützen durch die Stadt zu schleppen,
       musste ich letztens am eigenen Leib erfahren. Nach einer Operation am Knie
       wird der gewohnte Aktionsradius auf einmal ganz klein.
       
       In meinem Falle handelte es sich um das Straßenkarree rund um mein Zuhause
       in der Hausburgstraße im Friedrichshainer Nordkiez. Und es dauerte auch nur
       zwei Wochen. Doch diese Zeit hat meinen Blick – mit Gehstützen in der
       Händen schaut man eben andauernd nach unten – auf die Gehwege nachhaltig
       verändert. Und mein Mitgefühl geweckt.
       
       In meiner Straße ist es um den Zustand des Gehwegs schlimm bestellt. Und
       das schon seit den zwei Jahrzehnten, die ich nun hier wohne.
       
       Es handelt sich größtenteils um das reinste Flickwerk, was den Fußgängern
       da zugemutet wird. Manchmal fehlen gleich meterweise Gehwegplatten, man
       läuft über blankes Erdreich, das sich je nach Wetterlage variantenreich
       zeigt. Eben ist sowieso fast nichts mehr. Hier Ecken und Kanten, da
       kaputte, wacklige oder fehlende Gehwegplatten, dazu die Flickschusterei
       durch Kabel- oder Rohrverlegungsarbeiten, immer mal wieder aufgebrochen und
       wieder verschlossen – meist alles andere als fachmännisch.
       
       ## Wie schlecht vernarbte Wunden
       
       Und erst die armen Straßenbäume: Mit klitzekleinen Freiflächen rund um den
       arg geschundenen Stamm kurz gehalten, rächen sie sich mit subversiv
       wachsenden dicken Wurzeln, die die Gehwegplatten hochtreiben. Manche dieser
       Bruchstellen sind lieblos mit einer Masse aus Bitumen (also Straßenbelag)
       zugeschmiert worden. Das sieht wie schlecht vernarbte Wunden aus.
       
       Früher bin ich einfach darüber hinweg geschritten. Doch nun war ich vom
       miserablen Zustand des Bürgersteiges persönlich tangiert. Wenn ein frisch
       operiertes Bein bei jedem Schritt wehtut, wird so ein beschissener Gehweg
       zur reinsten Tortur. Mensch, was hab ich geflucht! Auch, weil in meinem
       Kiez leider nicht nur meine Straße so desolat ist, sondern auch einige
       benachbarte Straßen. Zum Beispiel weite Teile der Petersburger (mein Weg
       zur Tram-Haltestelle).
       
       Beim wochenlangen Herumhumpeln hab ich Sympathien für weitere Betroffene
       entwickelt. Andere Leute mit Gehstützen, Menschen, die auf Rollstuhl oder
       Rollator angewiesen sind, die Gehfehler haben, die alt und gebrechlich
       sind, dann die Jungen mit Kinderwagen …
       
       An Fußgänger denkt in der Regel niemand. An Gehandicapte und sonst wie
       Beladene schon gar nicht. Was da helfen könnte? So etwas wie „Fridays für
       Fußgänger“ müsste her. Wobei: Manchmal tut sich ja doch etwas.
       
       Letzten Herbst wurden rund 45 Meter an einem Ende der Hausburgstraße
       aufgemöbelt. Das Stück Gehweg ist neu, quasi von Grund auf. Weil es hier
       einen Spielplatz mit vielen Pappeln drumherum gab, die mit ihren wulstigen
       Wurzelausläufern ein ganz eigenes Biotop schufen, hatte man einfach
       kapituliert und der Natur ihren Lauf gelassen. Und die Gehwegplatten
       entfernt. Doch nun sind die meisten Pappeln verschwunden, die Wurzeln
       weiträumig ausgebaggert und schönster, weil total ebener Gehweg verlegt –
       bis zur Kante des ersten Wohnhauses. Dann geht das oben beschriebene Chaos
       los.
       
       Anfangs hatte ich noch gehofft, dass die Gehwegerneuerung in der Straße
       irgendwann weitergehen würde. Doch Fehlanzeige. Nun kann man für eine
       Kolumne ja auch recherchieren. Das hab ich dieses Mal nicht ganz
       uneigennützig getan. Das Straßen- und Grünflächenamt ist nicht nur für die
       Dinge zuständig, die das Amt im Namen trägt, sondern auch für Spielplätze
       und Wege. Die Pressestelle des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg hat
       für mich dort nachgefragt.
       
       Und siehe da: „Die Gehwegsanierung der Hausburgstraße ist in mehreren
       Abschnitten für dieses Jahr geplant“, schrieb mir eine Sprecherin. Echt
       jetzt? Und „die gesamte Petersburger Straße inklusive Gehweg wird zur Zeit
       von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz geplant und
       soll voraussichtlich Ende 2021 oder Anfang 2022 gebaut werden“.
       
       Der Wahnsinn! In meiner Straße wird also dieses Jahr der Gehweg saniert!?
       Das passt in die Strategie des Senats, nach der Zu-Fuß-gehen attraktiver
       (und sicherer) werden soll.
       
       Denn das ist ja nicht nur gesund, sondern bekanntlich völlig emissionsfrei,
       also gut für alle. Die rot-rot-grüne Landesregierung steht da gewissermaßen
       in der Bringschuld. Denn im mit viel Tamtam auf den Weg gebrachten
       Mobilitätsgesetz war von Fußgängern lange Zeit keine Rede. Eine vergangene
       Woche beschlossene Änderung des Mobilitätsgesetzes hat erstmals gesetzlich
       verankert, dass der Fußverkehr gefördert wird. Längere Grünphasen, mehr
       abgesenkte Bordsteine, besser beleuchtete Wege, mehr Fußgängerzonen etc.
       sollen kommen.
       
       Nötig ist das allemal. Auch wenn ich nicht mehr auf die Gehstützen
       angewiesen bin; die OP ist gut überstanden, das Knie wieder in Form. Ende
       gut, alles gut. Das passt. Denn das war die letzte Kolumne von mir an
       dieser Stelle. „Behelfsetikett“ verabschiedet sich!
       
       2 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hergeth
       
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