URI: 
       # taz.de -- Auf den Spuren Humboldts in Kasachstan: Jenseits der Hasenheide
       
       > Im kasachischen Altai warteten Geheimnisse, Glanz und Exotik auf den
       > Vollblutreisenden aus Berlin. Und was lässt sich heute dort vorfinden?
       
   IMG Bild: Wildpferde in Kasachstan
       
       Wie verlockend es sein kann, unauffindbare Orte zu suchen. Und noch
       verlockender, sich dorthin aufzumachen! Baty ist solch ein Ort, ein
       Außenposten irgendwo am Irtysch, am Fuße des Altai-Gebirges. Vermutlich ein
       unscheinbares Fleckchen, und doch verewigt durch keinen Geringeren als
       [1][Alexander von Humboldt], der hier 1829 den äußersten Punkt seiner
       famosen Russland-Expedition erreichte, und zugleich die meerfernste Region
       der Erde.
       
       Der große Reisende war selig, erfüllte sich ihm hier doch „ein heißer
       Wunsch meiner Jugend, zugleich den Amazonen-Strom und den Irtysch gesehen
       zu haben“. Baty, benannt nach Batu Khan, einem Enkel Dschingis Khans und
       Herrscher der Goldenen Horde, fungierte damals als Grenzposten zwischen dem
       russischen und dem chinesischen Imperium. Humboldts Besuch dort ist gut
       dokumentiert, sowohl in seinen eigenen Berichten wie in denen seiner beiden
       Gefährten, des Mineralogen Gustav Rose und des Biologen Christian Gottfried
       Ehrenberg.
       
       Auch in der Sekundärliteratur hat Baty einen festen Platz. Nur auf den
       Landkarten nicht. Wo zum Teufel liegt es? Weder der bewährte Diercke
       Weltatlas noch Google Earth wissen darauf eine Antwort, auch nicht in
       höchster Auflösung. „Versuche, eine PLZ hinzuzufügen“, rät Google.
       
       Womöglich zählt es zu jenen „unsichtbaren Städten“, von denen Italo Calvino
       zu berichten wusste? In Asiens Weiten kann das Unwahrscheinliche höchst
       wirklich sein und die Wirklichkeit höchst unwahrscheinlich. Ein Beispiel
       dafür bietet Astana, die Hauptstadt Kasachstans, die erste Anlaufstelle auf
       der Suche nach Baty. Im Laufe der letzten sechzig Jahre trug sie fünf
       verschiedene Namen.
       
       Kürzlich wurde sie zu Ehren von Nursultan Nasarbajew, der das Land drei
       Jahrzehnte lang regiert hat, in Nursultan umgetauft. Da zuvor schon
       zahllose Stätten nach ihm benannt worden sind, darunter auch der Flughafen
       der Metropole, landet man jetzt auf dem Flughafen „Nursultan“ von
       Nursultan. Astana wiederum bedeutet Hauptstadt, so dass wir in der
       kasachischen Hauptstadt „Hauptstadt“ ankommen. Calvino hätte seine helle
       Freude an diesen Tautologien gehabt.
       
       ## Im Auftrag der russischen Regierung
       
       Anderthalb Stunden dauert dann noch der Flug Richtung Altai, nach
       Ust-Kamenogorsk, kasachisch Öskemen geheißen, auf Englisch salopp zu „UK“
       verkürzt. Humboldt machte hier Station auf seiner Fahrt, die er in
       unnachahmlichem Understatement als „Sommerreise“ deklarierte. Eine bessere
       Landpartie in drei Kutschen, vom Schlößchen am Tegeler See in Richtung
       Kaulsdorf und dann immer geradeaus bis nach China …
       
       Acht Monate waren sie unterwegs; ein Kraftakt sondergleichen, bei dem sie
       an rund 650 Relaisstationen Halt machten und insgesamt über zwölftausend
       Pferde vorspannen ließen. Doch sie verloren kaum ein Wort über die
       Strapazen, was zählte, war einzig die Bereicherung des Weltwissens.
       
       Eigentlich sollten sie im Auftrag der russischen Regierung im Ural nach
       Bodenschätzen prospektieren. Doch der im sechsten Lebensjahrzehnt stehende
       Gelehrte verfolgte eigene Ziele. Und so absolvierten sie den Ural im
       Eiltempo, um ihre Auftraggeber dann mit „einer kleinen Erweiterung unserer
       Reisepläne“ vor vollendete Tatsachen zu stellen: Sie würden noch gut
       zweitausend Kilometer weiter nach Südosten vorstoßen.
       
       ## Sibirien die Fortsetzung der Hasenheide
       
       „Ich kann dem Drang nicht widerstehen“, bekannte Humboldt, ganz
       Vollblutreisender. Der Ural schien diesem Liebhaber der Hochgebirge
       schlicht zu niedrig, auch zu gewöhnlich. „Ganz Sibirien ist eine
       Fortsetzung unserer Hasenheide“, mokierte er sich. „Der arme Ehrenberg
       klagt noch immer über die berlinische Vegetation, die wir nicht abstreifen
       können.“
       
       Im Altai dagegen warten Geheimnis, Glanz und Exotik sowie die Gelegenheit,
       mit einer gänzlich anderen Welt in Berührung zu kommen, mit China.
       
       Ust-Kamenogorsk, damals ein kleines Glied in einer Kette von
       Grenzbefestigungen, zählt heute gut 300.000 Einwohner. Mit seinen breiten
       Straßen und Plätzen, den freistehenden Wohnblöcken und dem Kultur- und
       Sportpalast ist es sichtlich von der Stalinzeit geprägt. Die Straßenbahn
       leistet als lebendes Fossil der Sowjet-Ära weiter gute Dienste, nur dass
       sie heute nicht den Lenin-, sondern den Nursultan-Prospekt hinunterrattert.
       
       Im Zweiten Weltkrieg wurde Schwerindustrie aus dem Westen Russlands im
       großen Stil hierher verlagert, wo sie unangreifbar war und viel näher an
       den Rohstoffen. „Bei uns steckt das halbe Mendelejew’sche Periodensystem im
       Boden“, feixt Elena Sergejewna Sanjenko, leitende Mitarbeiterin des
       naturkundlichen Museums. Die man schon dafür gern haben muss, dass sie bei
       ihrer Führung durch das weitläufige, noch aus der Zarenzeit stammende Haus
       nicht mit einem Laserpointer herumfuchtelt, sondern einen hölzernen
       Zeigestab von rustikaler Eleganz benutzt.
       
       ## In der Steppe
       
       „Für Humboldt muss diese Reise ein Fest gewesen sein; schade, dass er so
       wenig Zeit hatte.“ Heute könne man hier binnen einer Woche fast alle
       europäischen Vegetationszonen erkunden, vom Hochgebirge bis zur
       Wüstensenke, von der Taiga bis zur Steppe. Mit ausgesuchter Höflichkeit
       korrigiert sie den Meister, der allzu häufig vulkanische Ursprünge gesehen
       habe, so auch im Altai, wohl eine private Obsession.
       
       Ob sie von Baty weiß? „Ja, natürlich. Nur werden sie da nicht hinkommen.“
       Aber könnte man nicht zu Fuß oder zu Pferd oder mit einem Geländewagen …?
       „Höchstens mit einem U-Boot.“ Ihr Zeigestab zieht auf der Reliefkarte den
       Irtysch aufwärts, bis er – klopf, klopf – zu einem langgezogenen blauen
       Schlauch gelangt: den Buchtarma-Stausee, einen der größten der Welt. In den
       sechziger Jahren ist Baty in seinen Fluten verschwunden wie ein asiatisches
       Atlantis. Ich möchte trotzdem hin.
       
       Die Straße folgt zunächst dem Fluss, nimmt dann eine Abkürzung durchs
       südliche Vorland des Altai. Im Irtyschtal wächst noch Wald sibirischer
       Prägung, wenn auch schon merklich schütterer. Dann aber übernimmt die
       Steppe. Und zwar komplett. Als wäre die ganze Welt mit Gras bespannt,
       erstreckt sie sich bis ins Unendliche.
       
       Für Menschen, die das Weite suchen, müsste sie eigentlich das Gelobte Land
       sein, denn Weite bietet sie im Übermaß. Doch sie befreit nicht, sie
       entmutigt. Sie erscheint nicht als Verheißung, sondern als ein
       unüberwindliches Hindernis. Sie bewirkt Verlorenheit und Geborgenheit
       zugleich. Und was tut man, wenn man sich paradoxen Empfindungen ausgesetzt
       sieht? Man wird philosophisch.
       
       Humboldt kannte diesen Lebensraum aus Südamerika: Wie der Ozean, so schrieb
       er, „erfüllt die Steppe das Gemüt mit dem Gefühl der Unendlichkeit und, wie
       den sinnlichen Eindrücken des Raumes sich entwindend, mit geistigen
       Anregungen höherer Ordnung.“ Die Steppe als eine Schule des Absoluten.
       
       Nach zwei, drei Stunden Fahrt – neben dem Raum- kommt einem hier auch das
       Zeitgefühl abhanden – mündet die Straße am Fähranleger. Wie ein
       chromblitzender Lindwurm staut sich die Warteschlange in den Schlusskurven.
       Dann rumpelt alles zügig an Bord, vom Motorrad bis zum Sattelschlepper.
       Drei Farben bestimmen die Welt: das Flachsblond des Graslands, das
       hypnotische Grün des Schilfgürtels und das lichte Kobaltblau des sich
       weitenden Speichersees, der die zehnfache Fläche des Bodensees bedeckt.
       
       Hinter der nächsten Biegung lag Baty. Durch eine Furt konnten die drei
       Forschungsreisenden damals bequem hinüberreiten. Sie genossen es, „einen
       ganz centralen Punkt Asiens“ erreicht zu haben. Hier kam es zu einer
       symbolträchtigen Begegnung, einem biedermeierlichen Stelldichein am Ende
       der Welt und doch zugleich in deren Mitte, etwa auf halber Strecke zwischen
       Petersburg und Peking.
       
       ## Die Przewalski-Pferde
       
       Der Befehlshaber des chinesischen Postens, ein gebildeter Beamter, empfing
       sie „in Seide gekleidet, mit einer hübschen Pfauenfeder auf der Mütze“. Er
       lud sie in seiner Jurte zum Tee, den die Chinesen, wie Humboldt erstaunt
       feststellte, „ohne Milch und Zucker“ trinken. Als er ihn um einige Bücher
       für seinen Bruder Wilhelm bat, der sich mit der chinesischen Sprache
       beschäftige, bekam er „Die Geschichte der drei Reiche“ geschenkt, einen der
       klassischen Romane der chinesischen Literatur. Humboldt revanchierte sich
       mit einigen Gegengaben, unter denen der Bleistift besonders reüssierte,
       denn ein solches Utensil war in China unbekannt. Damit schrieb Pekings
       Statthalter ihm auf Chinesisch und Mandschurisch eine Widmung in die
       Bücher.
       
       Am Ostufer kriecht der Lindwurm schließlich wieder an Land. Einige
       Fahrstunden südlich von hier – waren es drei oder fünf? – liegt ein
       weiterer Ort, der einen prominenten Platz in den Annalen der Naturkunde
       einnimmt. In Saissan entdeckte Nikolai Michailowitsch Przewalski 1878 die
       letzten Wildpferde der Erde. Ihm zu Ehren wurden sie später
       [2][Przewalski-Pferde] benannt.
       
       Der russische Forschungsreisende und Offizier hatte die Weiten Innerasiens
       nach allen Richtungen hin durchstreift, ein Odysseus des Festlandes. Seine
       berühmteste „Entdeckung“ geschah jedoch ziemlich unspektakulär auf dem
       Heimweg und obendrein schon auf russischem Gebiet, denn Russland hatte sich
       inzwischen weiter nach Süden ausgedehnt, so dass nun Saissan Grenzbastion
       war. Auf Vermittlung des dortigen Kommandanten überreichte ihm ein
       einheimischer Jäger das Fell und den Schädel eines Jungtiers.
       
       Es wurde eine wissenschaftliche Sensation. Denn die Zoologen der Zeit waren
       der Überzeugung, zumindest alle Großsäuger der Erde bereits zu kennen. Das
       einzige Wildtier ähnlichen Kalibers, das noch später entdeckt wurde, war
       das Okapi. Es lebt freilich auch vorzüglich getarnt im zentralafrikanischen
       Urwald. Die Wildpferde dagegen standen in der Steppe wie auf dem
       Präsentierteller. Doch das Offensichtliche kann ein probates Versteck sein.
       Besonders dann, wenn die, die sich damit befassen sollten, nie ernsthaft
       Ausschau danach halten.
       
       Denn etliche Reisende hatten kurz davor gestanden, Asiens letztes Mysterium
       zu lüften. Der prominenteste war Alfred Brehm, der zwei Jahre vor
       Przewalski in Saissan Gast desselben Kommandanten war, mit demselben Jäger
       fachsimpelte – aber den Berichten über die Wildpferde nicht nachging. Hätte
       er sich an ihre Fersen geheftet, hießen sie heute Brehm-Pferde. Sie hätten
       auch Humboldt-Pferde heißen können, wäre der Forscher tiefer in die Steppe
       hinein vorgestoßen. So aber entführte er nur ein Murmeltier aus dem Altai,
       das fortan die königliche Menagerie auf der Pfaueninsel bereicherte.
       
       2 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /250-Jahre-Alexander-von-Humboldt/!5625735
   DIR [2] /Wissenschaftler-ueber-Zucht-und-Natur/!5489680
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Schomann
       
       ## TAGS
       
   DIR Alexander von Humboldt
   DIR Kasachstan
   DIR Russland
   DIR Humboldt Forum
   DIR Türkei
   DIR Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Schau zu den Brüdern Humboldt: Die Helden dürfen mal dämmern
       
       Eine Ausstellung über „Wilhelm und Alexander Humboldt“ im Deutschen
       Historischen Museum will die beiden nicht nur verherrlicht sehen.
       
   DIR Zugverbindung zwischen China und Europa: Seidenstraße vollendet
       
       Der erste Güterzug auf der transeurasischen Schienenverbindung von China
       nach Europa erreicht die Türkei. Russland wird dabei umfahren.
       
   DIR Waldbrände im Osten Russlands: Sibirien in Flammen
       
       Im sibirischen Teil Russlands wüten seit Wochen Brände. Nun hilft das
       Militär beim Löschen. Die Feuer haben Auswirkungen aufs globale Klima.