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       # taz.de -- EU-Abgeordnete nach dem Brexit: Abschied aus Brüssel
       
       > Nach dreijähriger Odyssee verlässt Großbritannien die Europäische Union.
       > In Brüssel führte das zu Tränen, Wut – und enttäuschenden Partys.
       
   IMG Bild: Bye-bye Europa: Britische Abgeordnete laufen am Freitag vom EU-Parlament in Richtung Bahnhof
       
       Brüssel taz Sie wollten es einfach nicht wahrhaben. Sie wollten die Briten
       nicht ziehen lassen – nicht jetzt, da die Welt in Chaos versinkt und
       Großbritannien dringend gebraucht wird. Doch nun, am B-Day, [1][dem
       Brexit-Tag], fallen in Brüssel die Masken. Die sonst so geschäftigen und
       unnahbaren Europapolitiker zeigen ihr menschliches Gesicht.
       
       Zum Beispiel Frans Timmermans. Bis zum letzten Moment, so sagt der
       Vizepräsident der EU-Kommission, habe er auf „ein Wunder“ gehofft. „Ich
       habe mir etwas vorgemacht und geglaubt, dass das Land, das den Common Sense
       erfunden hat, wieder zu Sinnen kommen würde“, bekennt der Sozialdemokrat
       aus den Niederlanden auf einer Sondersitzung seiner Fraktion am Mittwoch.
       Dass es anders gekommen sei, mache ihn unendlich traurig.
       
       Oder Katarina Barley. Die frühere Bundesjustizministerin, nun
       Vizepräsidentin des Europaparlaments, wollte sich am Freitagabend entweder
       allein verkriechen oder zusammen mit Freunden in London sinnlos besaufen.
       „Ich werde auf jeden Fall echt trauern“, sagte die SPD-Politikerin, die
       einen britischen Vater hat und sich den „Remainern“ tief verbunden fühlt.
       
       Bei Scott Ainslie überwiegt dagegen die Wut. „Unser Land ist betrogen
       worden“, sagt der grüne Europaabgeordnete aus London. Großbritannien sei
       von „Hochseepiraten aus Neuseeland“ gekapert worden – eine Anspielung auf
       die Murdoch-Mediengruppe und ihre jahrelange Hetze gegen die EU. [2][Der
       Brexit] ist für ihn „der größte Fehler in einer Generation“, sagt er der
       taz.
       
       Keine normalen Zeiten 
       
       Statt zu trauern, hat Ainslie zusammen mit anderen britischen Abgeordneten
       für Donnerstagabend eine fröhliche Farewell-Party in einem Saal im
       Brüsseler Europaviertel organisiert. „Not leaving quietly“ – wir gehen
       nicht geräuschlos – lautet das Motto. Alle Proeuropäer sind eingeladen,
       sich ihren Frust über den Brexit aus dem Leib zu tanzen.
       
       Die schottische Band The Hoggies spielt auf, es gibt Freibier und
       kostenlose Teigtaschen. Der Saal ist voll, die Stimmung ausgelassen, vor
       laufenden Fernsehkameras wird wild getanzt und laut diskutiert. Doch die
       erhoffte Breitenwirkung bleibt aus, Ainslie und seine Freunde bleiben bis
       auf wenige Ausnahmen unter sich.
       
       Neben einigen britischen EU-Abgeordneten und ihren Assistenten – die nun
       zum großen Teil arbeitslos werden – sind nur ein paar Deutsche zu dem
       schottischen Abschiedsfest gekommen. Franzosen sucht man an diesem Abend
       ebenso vergebens wie Italiener oder Polen. Dabei feiert man oft und gerne
       zusammen – jedenfalls in normalen Zeiten.
       
       Doch es sind keine normalen Zeiten in Brüssel. Dies zeigt auch ein
       Abschiedsempfang am selben Abend, den die Stadt für ihre britischen
       Mitbürger organisiert hat. Auf der Grand Place, die eigens in den Farben
       des Union Jack angestrahlt wurde, spielt eine Band, der Bürgermeister hält
       eine Rede. Doch die Beteiligung hält sich in Grenzen, das belgische
       Fernsehen spricht von einer Pleite.
       
       Das liegt nicht nur am kalten Regen und dem stürmischen Wind, der den
       „B-Day“ in Brüssel vermiest. Den meisten Briten ist schlicht und einfach
       nicht zum Feiern zumute. Viele Belgier und Europäer hingegen sind es leid,
       dass sich seit Jahren alles nur noch um den Brexit dreht. Manch einer
       möchte endlich ein neues Kapitel aufschlagen und das britische Drama hinter
       sich lassen.
       
       Nach dem verlorenen Referendum 2016 hatte die EU versprochen, ohne
       Rücksicht auf London durchzustarten und einen „Aufbruch für Europa“ zu
       wagen. Stattdessen wurde der Brexit zum Hauptprogramm. Sogar die Europawahl
       wurde von dem endlosen Theater überschattet. Das hat Spuren hinterlassen –
       vor allem engagierte Proeuropäer und überzeugte Föderalisten sind
       frustriert.
       
       ## „Die Vision kam von uns“
       
       Zudem erinnern sich viele mit Schrecken daran, dass die Briten zuletzt nur
       noch Ärger gemacht haben. Im Irakkrieg stand Tony Blair auf der Seite der
       USA. In der Eurokrise blockierte David Cameron schnelle Entscheidungen.
       Danach hat Cameron zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel das EU-Budget
       zusammengestrichen – und dann auch noch das fatale EU-Referendum angesetzt.
       Das Sündenregister ist lang.
       
       Dagegen wirken die Erfolge, die die britischen Europaabgeordneten vorweisen
       können, eher dürftig. „Wir haben unseren britischen Humor mitgebracht“,
       sagt Labour-Politiker Richard Corbett in einem Interview. Außerdem habe man
       dafür gekämpft, die EU demokratischer und gerechter zu machen.
       
       Der liberale Politiker Chris Davies brüstet sich damit, die Schockbilder
       auf den Zigarettenpackungen durchgesetzt zu haben. „Die EU-Kommission war
       zunächst dagegen, nun lieben sie es“, sagt er der taz. Außerdem habe er
       erfolgreich für die Belange der Fischer gekämpft – Davies war Chef des
       Fischereiausschusses, nun geht er in Rente.
       
       Der Grünen-Politiker Ainslie schrieb sich den European Green Deal auf seine
       Fahne. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) habe das
       ambitionierte europäische Klimaprogramm bei den Grünen abgeschrieben, ohne
       britische Hilfe wäre das vielleicht nicht möglich gewesen. „Die Vision kam
       von uns“, sagt er.
       
       Fest steht, dass die proeuropäischen britischen Stimmen im Europaparlament
       wichtig waren. Vor allem Grüne und Liberaldemokraten konnten bei der
       Europawahl punkten. Doch mit dem Brexit und dem Abgang der 73 britischen
       EU-Parlamentarier kehrt sich der Erfolg in sein Gegenteil um. Linke und
       Linksliberale verlieren viele Sitze, Konservative und EU-Gegner gewinnen –
       das Europaparlament ist nach rechts gerückt.
       
       ## Eine Abschiedslied – trotz Verbot
       
       Für Nigel Farage ist das eine späte Genugtuung. Als der Chef der „Brexit
       Party“ 1999 in die Straßburger Kammer einzog, hätte er sich wohl selbst
       nicht träumen lassen, dass er sein Land eines Tages aus der EU führen
       würde. Nun, da der Brexit kommt, gibt er sich kämpferischer denn je. „Wir
       lieben Europa, wir hassen nur die Europäische Union“, ist sein Motto. Er
       hoffe, dass der EU-Austritt der Anfang vom Ende des europäischen Projekts
       sei.
       
       Doch auch die Pro-Europäer machen mobil. „It's not good bye – it’s au
       revoir“, skandieren die Sozialdemokraten zum Abschied ihrer britischen
       Genossen. „Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, wenn Großbritannien sich
       entschließt, zurückzukommen“, sagt Timmermans. „Der dritte Akt ist die
       Kampagne für den Wiedereintritt“, sagt auch Jens Geier, Chef der deutschen
       SPD-Gruppe.
       
       Auch die Grünen geben sich kämpferisch. Bereits am Sonntag, nur zwei Tage
       nach dem Brexit, reist die deutsche Europaabgeordnete Terry Reintke nach
       London, um eine EU-UK-Freundschaftsgruppe voranzutreiben. Sie trifft sich
       mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, um den Kontakt aufrechtzuerhalten und
       gemeinsame Projekte zu planen.
       
       Reintke war es auch, die den vorläufigen emotionalen Schlusspunkt im
       EU-Parlament gesetzt hat. Kurz vor der letzten Abstimmung zum Brexit schlug
       sie vor, gemeinsam „Auld Lang Syne“ zu singen. „Sollte alte Vertrautheit
       vergessen sein?“, heißt es im Songtext, „lass uns zueinander recht
       freundlich sein, der alten Zeiten wegen.“
       
       Singen ist im Plenarsaal verboten, und doch haben (fast) alle
       EU-Abgeordneten mitgemacht. Kurz nach der finalen Abstimmung über den
       Brexit-Vertrag stimmten mehrere Hundert Parlamentarier das Abschiedslied
       an. Die Grünen hielten sich zum Zeichen der Solidarität an den Händen,
       einige haben Tränen vergossen. Das verbindet – auch über den Brexit hinaus.
       
       31 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Brexit-nach-47-Jahren-in-der-EU/!5660850
   DIR [2] /Folgen-des-Brexits/!5657304
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eric Bonse
       
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