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       # taz.de -- Koalition ÖVP und Grüne in Österreich: Weniger Wagnis, als man glaubt
       
       > ÖVP und Grüne haben sich in Österreich zusammengetan. Kurz' Motto für die
       > Regierung: sowohl Klima als auch Grenzen schützen.
       
   IMG Bild: Werner Kogler (l., Grüne), Vizekanzler, und Sebastian Kurz (ÖVP), Bundeskanzler von Österreich
       
       Ist die [1][neue österreichische türkis-grüne Koalition] tatsächlich so
       ungewöhnlich, wie alle behaupten? Sie ist ein Novum. Aber ist sie wirklich
       eine widersprüchliche Konstellation? Der [2][Soziologe Andreas Reckwitz]
       liefert eine unerwartete Antwort auf diese Frage. Reckwitz skizziert einen
       „neuen Liberalismus“, der seit den 1980er Jahren vorherrscht. Entgegen der
       Annahme ist damit keineswegs nur der Neoliberalismus gemeint.
       
       Aus etwas Distanz werde, so Reckwitz, ein komplexeres Bild sichtbar. Dieses
       umfasst den wirtschaftlichen Neo- ebenso wie den kulturellen
       Linksliberalismus. Und auch wenn die beiden Strömungen „zeitweise
       miteinander verfeindet waren, stellen sie sich doch beide als zwei Seiten
       eines liberalen Paradigmas heraus“. So Reckwitz’ Befund.
       
       Das entscheidende Stichwort dabei ist: Paradigma. Politische Epochen werden
       für Reckwitz von Paradigmen geprägt. Das sind übergreifende Grundannahmen.
       Es ist nicht ganz klar, wie bewusst diese den Akteuren sind. Klar aber ist,
       dass er politische Veränderung als Paradigmenwechsel versteht.
       
       So sei die Zeit von 1945 bis in die 1970er Jahre vom Paradigma der
       Regulierung bestimmt gewesen – welches dann vom liberalen Paradigma der
       Dynamisierung abgelöst wurde. Dieses sei angetreten, um die früheren
       Begrenzungen in alle Richtungen – ökonomisch und kulturell – zu
       überschreiten.
       
       ## Rechts und links bespielen dasselbe Paradigma
       
       Wirklich entscheidend dabei ist, dass die Links-rechts-Unterscheidung sich
       nicht mit jeweils einem Paradigma deckt. So ist nicht die Regulierung links
       und die Dynamisierung rechts. Es gäbe vielmehr beide Paradigmen sowohl in
       linker als auch in rechter Version. Das sei, so Reckwitz, bei der
       Regulierungspolitik ebenso gewesen wie beim Liberalismus. Das bedeutet
       aber: Links und rechts sind nicht die grundlegenden politischen Kategorien.
       
       Zugleich befinden wir uns aber auch nicht, wie oft behauptet, jenseits von
       links und rechts. Diese haben vielmehr eine andere Funktion: Sie bespielen
       beide dasselbe Paradigma – variieren, interpretieren dieses aber in
       unterschiedlicher, oft in gegenteiliger Weise. So haben Neo- und
       Linksliberalismus beide teil an Konzepten wie Offenheit, Entgrenzung,
       Globalisierung. Aber während das eine Partei wie die konservative ÖVP als
       ökonomische Deregulierung interpretiert, übersetzen Grüne dies als
       Ankämpfen gegen alte Normen.
       
       Das bedeutet, dass ÖVP und Grüne, auch wenn sie für zwei extrem
       unterschiedliche, ja gegnerische Varianten des Liberalismus stehen, doch
       eine gemeinsame Grundmaxime haben. Beide kämpfen um Öffnung: sei es eine
       „Öffnung der Märkte“, sei es eine „Öffnung der Identitäten und
       Konventionen“. Gemeinsam bilden sie den gesamten – ökonomischen und
       kulturellen – Liberalismus. So weit die Soziologie.
       
       ## Öffnung und Schutz
       
       Die Realpolitik hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Kanzler Sebastian
       Kurz hat als Motto für die neue Regierung ausgegeben: „Es ist möglich,
       sowohl das Klima als auch die Grenzen zu schützen.“ Das Motto sagt also:
       Unser Programm ist der Schutz. Ob Klima oder Grenze, Hauptsache, Schutz.
       Wir stehen nicht unverbunden nebeneinander, wie viele Kommentatoren
       schreiben. Wir verbinden uns sehr wohl. Aber wir verbinden uns nicht über
       das liberale Paradigma der Offenheit.
       
       Wir verbinden uns vielmehr in aller Paradoxie über das entgegengesetzte
       Prinzip: das der Schließung. Denn wir repräsentieren beides: Öffnung und
       Schließung. Wir lassen uns nicht festnageln. Festnageln war gestern. Heute
       gilt: Grenzen und Klima. Sowohl als auch. Alles lässt sich schließen und
       regulieren. Als wäre es ein und dasselbe Regulierungsprojekt.
       
       Auch der Klimaschutz kann eingemeindet werden. Auch die Natur.
       Eingeschlossen in die Grenzen haben wir dann eine regulierte Natur. Damit
       scheinen alle Bedürfnisse gestillt. Ob neo- oder linksliberal. Sowohl als
       auch. Dass darunter eine ganz andere Melodie spielt, fällt kaum mehr auf.
       Diese neue Koalition ist weit weniger Wagnis, als man glaubt. Denn für die
       ÖVP gilt: Man muss Neues wagen, damit alles beim Alten bleibt.
       
       28 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neue-Regierung-in-Oesterreich/!5653517
   DIR [2] /Zwei-Buecher-ueber-Liberalismus/!5651646
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
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