# taz.de -- „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay: Keine Angst vor bellenden Hunden
> Journalistin Kübra Gümüşay hat ein Buch geschrieben. Es beschreibt die
> Sehnsucht, nicht mehr ständig über die eigene Identität sprechen zu
> müssen.
IMG Bild: Kübra Gümüşay möchte gern die Verteidigungshaltung aufgeben können
Wenn ich in meiner Geburtsstadt bin, gehe ich gern morgens im Park meiner
Kindheit joggen. Von außen betrachtet bin ich dann wahrscheinlich ein
mittelalter stämmiger Mann in problematischem Outfit, der etwas für seine
Gesundheit tut. Für mich allerdings öffnen sich jedes Mal Welten.
Ich laufe an dem Schreibwarengeschäft vorbei, in dem ich Pelikanfüller und
Sammelbildchen gekauft habe, an dem Freibad, wo ich schwimmen gelernt habe,
ich passiere den Spielplatz, an dem ich eines Tages plötzlich aus dem
Paradies des Kleinkindseins erwachte und zum ersten Mal bewusst „ich“
sagte. Und dieses „Ich“ sah dann irgendwann, dass die alte Gedenksäule, um
die ich herum tausendmal Fangen gespielt habe, einem „unermüdlichen
Verteidiger des Deutschtums“ gewidmet ist und dass der Hügel, den ich
schnaufend mich hinaufwinde, aus Kriegsschutt besteht.
Der Krieg, den meine Eltern hier als Kinder noch erlebt haben, ist vorbei,
ich kann in Frieden nach Hause kommen. Weniger dramatisch, aber durchaus
auch bevorzugend sind die Tatsachen, dass ich mir eine Fahrkarte leisten
kann und dass meine Eltern mich und meine Familie unterbringen können. Ich
muss mich um kein Visum bemühen, um meine Mutter umarmen zu können, und
keinen Antrag auf „Ortsabwesenheit“ beim Jobcenter stellen, bevor ich mich
auf den Weg mache.
Ich, der weiße kräftige Mann, wandle auch nachts angstfrei unter diesen
alten Bäumen. Ich bin bis in die weniger werdenden Haarspitzen
privilegiert, werde ich mir manchmal joggend bewusst. Bis ich an diese enge
Stelle der Serpentine komme, wo mir jedes Mal der Schweiß noch mal extra
ausbricht und ich die Schutzschilde hochfahre: Denn hier hatte ich schon so
viele knurrende Begegnungen mit Rottweilern, Dobermännern und
Maremmen-Abruzzen-Schäferhunden, deren Herrchen und Frauchen meinen Park in
diesen Vormittagsstunden selbstverständlich als den ihren reklamieren und
ihre Hunde frei laufen lassen.
## Es geht um das Recht auf Freiheit und Individualität
Ich hingegen fühle mich unfrei, gefangen, erniedrigt, dass ich nicht ohne
eine Grundspannung, nicht ohne Angst hier sein kann; und wenn mir jetzt
jemand sagt, ich könne ja diese Stelle meiden, müsse an meiner vermeintlich
irrationalen Angst arbeiten oder solle eben jedes Mal die Polizei rufen –
dann sind wir mitten drin in dem, was jedenfalls mir [1][Kübra Gümüşays
Buch „Sprache und Sein“] mitgegeben hat.
Mein Versuch einer einleitenden Anverwandlung ist dabei nicht
unproblematisch. In Gümüşays Buch geht es nur sehr am Rand um die
berüchtigten Sorgen alter weißer Männer. Es geht aber grundsätzlich um das
Recht auf Freiheit, auf Individualität, auf ein Leben, das nicht in
Schubladen kategorisiert wird, eines ohne Angst: das Leben eben, welches
das Grundgesetz den in Deutschland Lebenden zusichert.
„Individualität, Komplexität, Ambiguität, Makel und Fehler“ jedoch –
eigentlich ja keine Privilegien – würden „Menschen, die von der Norm
abweichen“, nicht zugestanden, schreibt Gümüşay, also denjenigen, „die
inspiziert werden, die benannt werden“, die eingesperrt sind in den
Definitionen der Benennenden: „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die
Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische
Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“
Oder drastischer und persönlicher auf den Punkt gebracht: „Wenn ich, eine
sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9
Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion
missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“
## Religion als Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses
Die „Schutzschilde fallen lassen“, das ist die Sehnsucht. Nicht mehr die in
Deutschland „bei jeder Begegnung mitlaufende Gefechtsbereitschaft“
aktivieren müssen, wie das der afrodeutsche Literaturkritiker Ijoma Mangold
in seinem Buch „Das deutsche Krokodil“ anlässlich eines Besuchs in Los
Angeles beschrieben hat: „Ich musste die Reaktion meines Gegenübers nicht
mehr vorwegnehmen, um sie in meinem Sinne beeinflussen zu können, denn hier
schloss niemand von der Hautfarbe auf den Habitus zurück.“
Der Kampf um Individualität, um die eigenen Sprachen, der Kampf darum, den
Graben zu schließen, zwischen dem, was sie sich entschieden hat zu sein,
und dem, worauf sie festgelegt wird – und zwar der kollektive Kampf aller
Marginalisierten und im Speziellen ihrer Generation: Kübra Gümüşays Buch
ist dafür ein kraftvolles, mit vielen interessanten Verweisen und Zitaten
gespicktes Manifest. Was es besonders macht, ist ihr ausführlich
dargelegtes Beharren auf Spiritualität in einer scheinbar laizistischen
Gesellschaft. Scheinbar weil etwa der anhaltende Esoterikboom oder der
grüne Streit um die Homöopathie zeigen, dass sich das Verhältnis zu
Spiritualität nicht nur an Kirchenaustrittszahlen messen lässt.
Gümüşay schreibt: „Zwischen Gott und glaubendem Menschen sollte niemand
sein.“ Doch im säkularen Diskurs werde „die religiös geprägte Sprachwahl“
verhöhnt, die Perspektive der Nichtgläubigen sei weniger neugierig als
„gierig“. Sie wehrt sich gegen diese als Zumutung empfundene Penetranz des
Publikums, sie [2][auf ihre Religiosität und ihr Kopftuch zu reduzieren]:
„Ich frage mich, wie ein Mensch noch spirituell bleiben kann, wenn er seine
Spiritualität fortwährend rationalisieren, erklären und verteidigen muss.“
Diese Frage hat sich vor Jahrzehnten auch schon ein damals durchaus noch
aufgeschlossener katholischer Geistlicher und Gelehrter gestellt und darauf
die Antwort gegeben: Überhaupt nicht! Er kam zu dem fundamentalistischen
Schluss, dass Spiritualität in der modernen Gesellschaft nur bestehen
könne, wenn sie sich radikal dem Diskurs entzöge und auf Dogmen und
Weihrauch statt auf Dialog und Erkenntnis setze.
## Eine offene Gesellschaft braucht Offenheit
So wurde aus [3][Josef Ratzinger ein Reaktionär und Hardliner], der
Repräsentant einer faktischen Spaltung der katholischen Kirche, die wohl
einen unumgänglichen Klärungsprozess zwischen der offenen, die Liebe in den
Mittelpunkt stellenden Volkskirche und einem elitären Dunkelmännertum
darstellt und selbstverständlich nicht ohne Druck von außen vor sich gehen
konnte.
Gümüşay schreibt, dass die „ewige Verteidigungshaltung“ dazu geführt habe,
dass innerislamische Diskussionen vernachlässigt worden seien. „Aus Angst
davor, jemand könnte solche Diskussionen instrumentalisieren, haben wir
vermieden, Missstände innerhalb unserer Gemeinschaften – Sexismus,
Antisemitismus, Radikalisierung, Rassismus – ausreichend zu kritisieren.
Aus lauter Angst, Öl ins Feuer zu gießen, haben wir auch kein Wasser
gegossen.“
Es ist das der Punkt, an dem ich Kübra Gümüşay nicht folgen kann, wenn sie
sich anschließend rhetorisch fragt: „Wie wäre es, wenn wir nicht so sehr
darum besorgt wären, was andere über uns und unsere Religion denken?“ Aus
meiner Perspektive ist das der Ratzingerweg hin zu einer sterilen,
falschen, schmollenden Spiritualität. Ich jedenfalls würde sehr gerne in
Ergänzung zu den ewigen christlichen Gottesdienstübertragungen regelmäßig
am Freitag eine Übertragung aus einer Moschee hören. Die ich dann auch gern
verstehen möchte. In der offenen Gesellschaft funktioniert auf Dauer nur
Offenheit, ein Erkenntnisprivileg der Gläubigen kann es nicht geben– so
schmerzlich das auch sein mag.
Die zitierte Frage Gümüşays ist aber vielleicht auch der Verweis auf einen
eher leisen Grundton, der unter dem leidenschaftlichen und poetischen
Rhythmus dieses Manifestes mitschwingt: dass nämlich der „tatsächliche
Kulturwandel“, die „reale Utopie“ der Gesellschaft der wirklich
Gleichberechtigten sich unter den von Gümüşays eher beiläufig geschilderten
realkapitalistischen Umständen nicht verwirklichen lassen wird. Wenn es
doch gelinge, sagt Gümüşay, dann nur in Form eines „wohlwollenden
Diskurses, der durch Austausch, nicht durch Abgrenzung geformt wird“.
Als mich kürzlich in meiner Geburtsstadt wieder ein Hund ansprang, habe ich
meine Angst und meinen Zorn nicht überwinden können, ich habe losgeschrien.
Nach dem Buch von Kübra Gümüşay möchte ich es jetzt unbedingt mal anders
probieren. Ruhig, wohlwollend, die Perspektive wechselnd, ohne meine eigene
zu verleugnen oder kleinzumachen. Aber ganz sicher, dass das wirklich etwas
bringt, bin ich nicht – so wie Kübra Gümüşay selbst, glaube ich, auch
nicht.
3 Feb 2020
## LINKS
DIR [1] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/sprache-und-sein/978-3-446-26595-0/
DIR [2] /Intersektionaler-Feminismus/!5533294
DIR [3] /Joseph-Ratzinger-und-der-Missbrauch/!5584862
## AUTOREN
DIR Ambros Waibel
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