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       # taz.de -- Vereinbarkeit von Ausbildung und Familie: Vollzeit oder gar nicht
       
       > Der Staat wirbt dafür, dass junge Eltern ihre Ausbildung in Teilzeit
       > absolvieren können. Ausgerechnet die Bundestagsverwaltung stellt sich
       > aber quer.
       
   IMG Bild: Hier wollte sie ihre Ausbildung machen: Maxine Bacanji vor dem Paul-Löbe-Haus des Bundestags
       
       Berlin taz | Die Broschüre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
       ist mit einer Verheißung überschrieben: „Ausbildung in Teilzeit – ein
       Gewinn für alle“. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei
       „nicht nur für den Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung“, heißt es
       darin. Auch junge Eltern in der Ausbildung könnten Lehre und Familie durch
       [1][Teilzeitmodelle] besser miteinander vereinbaren. Und die Unternehmen
       könnten sich dadurch „die Potenziale einer hoch motivierten und
       verantwortungsbewussten Zielgruppe“ erschließen.
       
       Wie das Bildungsministerium werben verschiedene weitere Ministerien dafür,
       dass Betriebe die Möglichkeit zur Teilzeitausbildung nutzen, die der
       Bundestag 2005 gesetzlich verankert hat. Doch ausgerechnet die Verwaltung
       des Parlaments gewährt diese Möglichkeit nur sehr eingeschränkt: Einer
       jungen Mutter, die bei der Bundestagsverwaltung eine Ausbildung beginnen
       wollte, wurde die Teilzeit gerade verwehrt.
       
       Ende September bewarb sich die Berlinerin Maxine Bacanji um eine Stelle bei
       der Bundestagsverwaltung. Diese, so heißt es im Ausschreibungstext, „hat
       sich die berufliche Gleichstellung von Frauen und Männern zum Ziel gesetzt
       und ist deshalb in diesem Bereich, in dem der Anteil weiblicher
       Beschäftigter bislang nur gering ist, besonders an Bewerbungen von Frauen
       interessiert“. Die Bundestagsverwaltung verstehe sich „als
       familienfreundlicher Arbeitgeber und begrüßt daher die Bewerbungen von
       Menschen mit Kindern“.
       
       „Mir liegt Organisatorisches“, sagt Bacanji, 26 Jahre alt und
       alleinerziehende Mutter eines 18 Monate alten Sohnes. Nach zehn
       Studiensemestern Deutsch und Philosophie auf Lehramt will sie sich
       beruflich umorientieren. „Der Bundestag war mein Favorit als Ausbilder.“
       Sie will dort zur Verwaltungsfachangestellten werden.
       
       ## Teilzeit erst nach einem Jahr
       
       Sie wird zum Aufnahmetest eingeladen, eine Woche nach diesem Termin zum
       Vorstellungsgespräch. „Dort habe ich das erste Mal nach Details gefragt“,
       sagt Bacanji. Teilzeit sei möglich, heiße es – aber nicht von Anfang an.
       Erst einmal müsse man sehen, wie sie sich mache. Und gegebenenfalls könne
       sie dann nach einem halben oder auch einem Jahr von der Vollzeit- in eine
       Teilzeitausbildung wechseln.
       
       Die Kita, in die ihr Sohn geht, hat von 8 bis 17 Uhr geöffnet, momentan ist
       ihr Sohn um die fünf Stunden pro Tag dort. Noch nicht einmal das Jobcenter
       verpflichtet Alleinerziehende dazu, Vollzeit zu arbeiten, wenn das Kind
       unter 12 Jahre alt ist. Und selbst wenn ihr Sohn die gesamte Zeit in die
       Kita ginge, ist die Ausbildung nicht zu schaffen, wenn die Entfernungen so
       groß sind wie [2][in Berlin]: Die Kita liegt im Berliner Bezirk Lichtenberg
       im Osten, der Ausbildungsort in Mitte und die Berufsschule in Steglitz im
       Westen.
       
       Bacanji bekommt die Zusage für den Ausbildungsplatz, doch die Verwaltung
       bleibt bei ihrer Position. „Wie ich mein Kind versorgen soll, hat niemand
       gesagt“, sagt Bacanji. Sie sagt ab. Fürs Jobcenter, auf dessen Zahlungen
       sie derzeit angewiesen ist, bittet sie per Mail um eine Bestätigung, dass
       die Ausbildung in Teilzeit nicht möglich ist. Die Mitarbeiterin der
       Verwaltung dementiert mit einer abenteuerlichen Begründung: „Wie ich Ihnen
       bereits am Telefon mitgeteilt habe, ist selbstverständlich auch eine
       Teilzeitausbildung möglich“, schreibt sie – nur eben nicht von Anfang an.
       Eine explizite Bestätigung dieser Regelung zur Vorlage beim Jobcenter
       verweigert sie.
       
       ## Unrealistischen Annahmen
       
       Die Bundestagsverwaltung, ärgert sich Bacanji, gehe von völlig
       unrealistischen Annahmen über das Leben von Alleinerziehenden aus. „Es
       macht mich sehr wütend, dass diejenigen, die durch Gesetzesänderungen
       Teilzeitausbildung ermöglichen und bei Unternehmen dafür werben, selbst
       nicht bemüht sind, diese durchzusetzen – aber scheinheilig so tun.“ Nicht
       nur dass sie Zeit für eine Bewerbung verloren hat, sie muss sich nun auch
       erneut auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz machen.
       
       Wegen Bacanjis Fall wandte sich Anfang Januar der Bundestagsabgeordnete
       Friedrich Straetmanns von der Linksfraktion an Bundestagspräsident
       Wolfgang Schäuble. Die praktizierte Regelung, eine Ausbildung in Teilzeit
       erst nach einem halben Jahr zu ermöglichen, mache eine Teilzeitausbildung
       in der Bundestagsverwaltung „in den allermeisten Fällen unmöglich“,
       schreibt Straetmanns.
       
       Und weiter: „Wir als Deutscher Bundestag haben eine besondere Verantwortung
       und Vorbildfunktion. Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass hier
       Verbesserungsbedarf für die nächsten Ausbildungsjahrgänge besteht. Ich
       würde Sie daher bitten, für entsprechende Regelungen und Sensibilität in
       der Verwaltung zu sorgen.“
       
       Und die Bundestagsverwaltung? Will sich lieber nicht äußern. Sie verweist
       an die Pressestelle. Die folgt der Logik, die schon die Bewerberin Bacanji
       erfahren musste: Etliche Mitarbeiter des Bundestags seien in Teilzeit
       beschäftigt, schreibt ein Sprecher. Offensichtlich müsse die Möglichkeit,
       im Bundestag Teilzeit zu arbeiten, also „grundsätzlich“ bestehen.
       
       20 Jan 2020
       
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