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       # taz.de -- Buch über sexuellen Missbrauch: Gegen den Pranger
       
       > Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger erlebte als Junge im
       > Kloster Zwettl sexuelle Gewalt. In seinem Buch „Mein Fall“ erzählt er
       > davon.
       
   IMG Bild: Der Buchautor Josef Haslinger im Jahr 2013
       
       Wenn Pater Gottfried Eder den damals zehnjährigen Josef Haslinger im
       Zisterzienserkloster Zwettl zur Seite nahm und einen unbeobachteten Ort mit
       ihm aufsuchte, wusste der Junge schon, was folgen sollte: „Es lief immer
       auf das Gleiche hinaus. Er griff nach meinem Penis und wollte, dass ich
       auch seinen Penis anfasse.“
       
       Josef Haslinger war Ende der sechziger Jahre für einige Jahre Sängerknabe
       in dem niederösterreichischen Kloster, und Pater Gottfried war nicht der
       einzige, der ihn damals sexuell [1][missbrauchte.] Auch Organist Adolf
       Viktor nötigte ihn dazu, ihn zu befriedigen. Physische Gewalt war ebenfalls
       an der Tagesordnung, Pater Bruno Schneider war sogar stolz auf seine harte
       Gangart. Wegsperren, Watschen, Stockhiebe, all das war Gang und Gäbe.
       
       Josef Haslinger, heute anerkannter und vielfach ausgezeichneter
       Schriftsteller, hat nun sowohl ein Buch über seine Missbrauchsgeschichte
       als auch über sein Hilfeersuchen bei den Opferschutzinitiativen in
       Österreich geschrieben. „Mein Fall“ heißt es.
       
       Es geht dem heute 64-Jährigen vor allem darum, die Namen „der Männer, die
       mich so verstört haben, dass sie mich ein Leben lang verfolgen, endlich
       [zu] benennen“. Er konnte dies, wie er mehrfach betont, erst tun, nachdem
       diese alle verstorben waren. Sie zu Lebzeiten mit ihrer Tat zu
       konfrontieren oder sie anzuzeigen, sei für ihn nicht infrage gekommen. Er
       hätte sich in dem Fall um ihren Ruf gesorgt, schreibt er. Und gesteht zu:
       „Normal mag das nicht sein.“
       
       Haslingers Buch hat eine Vorgeschichte. Denn es ist nicht das erste Mal,
       dass er über die Abgründe im Stift Zwettl schreibt. Die Gewalterfahrungen
       und pädosexuellen Übergriffe hat er in mehreren literarischen
       Kurzgeschichten (u. a. „Die plötzlichen Geschenke des Himmels“, 1983, „Im
       Spielsaal“, 2019) verarbeitet.
       
       2004 schrieb er im Standard lakonisch davon, [2][wie er zum „Fachmann für
       sexuelle Übergriffe von Schwarzröcken“] wurde, 2010 veröffentlichte er in
       der Welt einen viel kritisierten Artikel, in dem er die sexuellen
       Übergriffe als [3][„Oase der Zärtlichkeit“] innerhalb des Gewaltsystems
       Zwettl beschrieb.
       
       Der [4][Soziologe Gerhard Amendt] bezeichnete diese Verharmlosung als
       typisch für Missbrauchsopfer, sie zeigte allzu deutlich die Beschädigung
       des Subjekts bis ins Erwachsenenalter hinein: „Er scheint zeitlebens
       unfähig, sich gegen seine Missbraucher aufzulehnen.“
       
       In Teilen ist „Mein Fall“ nun eine Korrektur früherer Positionen. Die Tat,
       so schreibt er, wolle er sich „nicht länger schönreden“. Es könne keine
       einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen einem 29-Jährigen – so alt war
       ‚Haupttäter‘ Eder, als er nach Stift Zwettl kam – und einem Elfjährigen
       geben.
       
       Was er aber weiterhin ablehne, sei der öffentliche Pranger. „Empathie mit
       den Tätern“ gehöre „ein wenig zum humanistischen Standard“. Das bedeutet
       auch, dass er sich einfachen Täter-Opfer-Schemata verweigert.
       
       „Mein Fall“ ist unchronologisch geschrieben, Haslinger springt bewusst
       zwischen der heutigen Bewertung der Ereignisse und der Einschätzung des
       kindlichen Ich und gleicht beides – mehr als noch vor zehn Jahren –
       miteinander ab. Er rechnet auch mit den österreichischen
       Opferschutz-Initiativen ab, die ihn, seit er sich November 2018 an sie
       wandte, von einer Stelle an die nächste verwiesen.
       
       In erster Linie ist „Mein Fall“ ein Buch über ein rigides und
       erbarmungsloses Gewalt- und Strafregime und über unterdrückte Sexualität.
       Ein Buch, das Zwischentöne kennt, das in der Suchbewegung nach der Wahrheit
       bleibt. Und eines vermitteln die 144 Seiten dem Leser ganz sicher: womit,
       wogegen und wofür Menschen kämpfen, die als Kind missbraucht wurden.
       
       29 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-Missbrauch-in-der-Kirche/!5574121
   DIR [2] https://apps.derstandard.de/privacywall/story/2000111404041/josef-haslinger-ueber-seine-missbrauchsgeschichte
   DIR [3] https://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article6752388/Jetzt-bloss-keine-Hexenjagd.html
   DIR [4] https://www.welt.de/debatte/article6787419/Die-abnormen-Argumente-der-Paedophilie-Versteher.html
       
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   DIR Jens Uthoff
       
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