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       # taz.de -- Pilze aus urbaner Landwirtschaft: Kunterbunte Kellerkinder
       
       > In Städten ist nicht viel Platz für lokal erzeugte Lebensmittel – aber
       > unter ihnen. So wachsen in Kasseler Kellern schmackhafte Seitlinge.
       
   IMG Bild: Reiche Ernte: Rosen- und Austernseitlinge aus Kassel
       
       Kassel taz | Wenn Katrin Becker und Johanna Quendt ins Kellergeschoss ihres
       Mehrfamilienhauses gehen, dann nicht, um ihre Fahrräder abzustellen oder
       die Gartenmöbel zu holen. Sie ernten Pilze. Seit ein paar Monaten züchten
       die beiden Frauen aus Kassel dort in einem dunklen Raum Austern-, Rosen-
       und Limonenseitlinge. Auf Metallregalen stehen mehrere Dutzend weiße
       Plastikeimer und transparente Tüten, aus denen kleine und große
       trompetenförmige Pilze sprießen.
       
       Vor über einem Jahr haben die beiden Frauen die „Kasseler Bunkerpilze“
       gegründet: ein kleines Unternehmen, das Pilze auf Kaffeesatzbasis anbaut.
       „Wir folgen dem Prinzip der saisonalen und regionalen Herstellung von
       Produkten“, sagt Quendt, während sie rosafarbene Pilze in eine braune
       Papiertüte legt.
       
       Kennengelernt und angefreundet haben sich Quendt und Becker als
       Nachbarinnen. Oft hatten sie sich gefragt, wie man nachhaltig Lebensmittel
       im urbanen Raum produzieren kann. In Kassel gibt es viele
       Urban-Gardening-Initiativen, doch wie in vielen deutschen Städten ist der
       nutzbare Raum begrenzt. „Wenn es oberhalb keine Flächen gibt, muss man eben
       unter die Stadt gucken“, sagt Becker. In Kassel gibt es viele unbenutzte
       unterirdische Räume, die ideale Bedingungen bieten, denn Pilze mögen es
       feucht, kühl und dunkel.
       
       Dabei hatten die beiden anfangs keine Erfahrung mit der Pilzzucht: Johanna
       Quendt ist Psychologin und hat Landwirtschaft studiert: „Da hat man zwar
       mit Pilzen zu tun, aber eher mit Pilzen als Pflanzenkrankheit.“ Katrin
       Becker studiert Produktdesign an der Uni Kassel. Sie hat die Pilzzucht zum
       Thema ihrer Abschlussarbeit gemacht.
       
       Der Beginn der „Kasseler Bunkerpilze“ wurde Anfang 2019 durch das
       „Hessen-Ideen-Stipendium“ ermöglicht. Die Weiterfinanzierung sicherten sich
       Quendt und Becker durch [1][ein erfolgreiches Crowdfunding]: über 9.000
       Euro kamen zusammen. „Durch das Stipendium haben wir Räumlichkeiten von der
       Universität Kassel bekommen, die lange Zeit ungenutzt waren“, sagt Quendt.
       
       ## Ein altes Tier-OP-Zimmer als Lager
       
       So nutzen sie im Keller der Uni einen weiteren Raum für die Zucht und ein
       unbenutztes Tier-Operationszimmer als Produktionsraum: Hier lagern Zutaten
       und Instrumente und steht ein roter Betonmischer, in dem der Kaffeesatz mit
       Strohpellets und der Pilzbrut angerührt wird.
       
       In der Natur wachsen Pilze im Wald auf Holz oder unter Laub. „Den Stoff,
       den sie im Holz mögen, ist Lignin“, sagt Katrin Becker. Lignin ist
       wesentlich für die Festigkeit pflanzlicher Gewebe und befindet sich in den
       Strohpellets. Kaffeesatz wiederum ist ein hervorragender Nährboden für
       essbare Pilze, denn er enthält besonders viel Stickstoff und kann daher als
       Dünger verwendet werden.
       
       Den Kaffeesatz holen die „Kasseler Bunkerpilze“ wöchentlich mit dem
       Lastenfahrrad von Kasseler Cafés. Die Kaffee-Stroh-Pilzbrut-Mischung kommt
       in weiße Plastikeimer, die Löcher haben, aus denen später die Pilze
       sprießen. Mehrere Wochen lang stehen die Plastikeimer in einem
       abgedunkelten Teil des Produktionsraumes, bis sich die ersten Fruchtkörper
       entwickeln. Sobald stecknadelförmige Pilze zu sehen sind, kommen die Eimer
       in den Keller, wo in ein paar Tagen handgroße Rosen-, Austern- und
       Limonenseitlinge reifen.
       
       ## Seitlinge mit Specknote
       
       Die Limonenseitlinge schmecken nicht nach Zitrusfrucht, sondern heißen
       wegen ihrer gelben Färbung so. Genau wie die Rosenseitlinge sind sie sehr
       würzig und haben fast schon eine Specknote, wenn man sie anbrät. Beide
       haben sehr festes Fleisch. Die Austernpilze riechen weniger würzig und sind
       zarter. „Mein Bruder schneidet die in kleine Würfel, macht Sojasoße darauf
       und streut die über den Salat oder in die Suppe als Topping“, erzählt
       Katrin Becker.
       
       Bei der Herstellung der Pilze fällt kein Müll an. Die Eimer stammen aus der
       Lebensmittelindustrie, nach dem Pflücken werden sie gereinigt und
       wiederverwendet. Der Kaffeesatz wird als Kompost von einer solidarischen
       Landwirtschaft genutzt, die mit den Bunkerpilzen zusammenarbeitet.
       
       Lange hat es gedauert, bis das Unternehmen die ersten Pilze ernten konnte.
       Es brauchte mehrere Anläufe, bis alle Parameter stimmten: der pH-Wert, die
       richtige Temperatur, die Feuchtigkeit im Substrat. Im Oktober 2019 war es
       dann nach vielen Versuchen so weit. „Das war ein besonderer Moment für
       uns“, sagen beide begeistert.
       
       ## Zehn Kilo Pilze pro Woche
       
       Heute ernten Quendt und Becker mit Hilfe von Freunden zehn bis fünfzehn
       Kilo pro Woche. Damit können sie ein paar Kasseler Restaurants – eines
       nutzt die Pilze für vegane Burgerpatties – und Privatpersonen beliefern,
       aber für den Vertrieb im Einzelhandel ist die Menge nicht ausreichend.
       
       In der Zukunft soll es in der Kasseler Markthalle einen Stand mit den
       Pilzprodukten geben, auch im Unverpacktladen in Kassel ist der Verkauf
       geplant. „Davon leben können wir noch nicht“, sagt Quendt. In der Zukunft
       möchte das kleine Unternehmen in die solidarische Landwirtschaft eintreten
       und so die lokale Herstellung von Lebensmitteln weiter fördern und
       mitgestalten.
       
       Erhältlich sind die drei Bunkerpilz-Seitlingsorten aus logistischen Gründen
       und im Sinne der lokalen Landwirtschaft ausschließlich in Kassel. Doch
       besteht ein großes Interesse, das Pilzzucht-Knowhow deutschlandweit zu
       teilen. „Überall landet Kaffeesatz in der Tonne“, sagt Becker. „Und es ist
       einfach toll, wenn man daraus noch etwas machen kann.“
       
       9 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.startnext.com/kasseler-bunkerpilz
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eliane Morand
       
       ## TAGS
       
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