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       # taz.de -- Tabubruch in Thüringen: Babylon Erfurt
       
       > Gefährlich wird es, wenn das bürgerliche Zentrum Richtung extremer
       > Rechter kippt. Ein erster Versuch in Thüringen ist aber gescheitert.
       
   IMG Bild: Der „Tabubruch“ von Thüringen brauchte keine 24 Stunden, um von der Farce zum Fiasko zu werden
       
       Es ist ein bisschen gespenstisch, aber auch ein bisschen skurril: Da
       schauen Millionen Serien-Afficionados gerade die neuen Staffeln von
       „Babylon Berlin“, die die Zuseher an die Wende der zwanziger zu den
       dreißiger Jahren zurückversetzen. Nationalkonservative Pseudo-Eliten
       bedienen sich der Nazipartei und ihrer Straßenbanden im Kampf gegen
       Sozialisten und Kommunisten. Mögen sie sich konservativ, nationalliberal
       oder monarchistisch nennen: Im Zweifel opfern sie die pluralistische
       Demokratie, um sich der verhassten Sozis und der Republik zu entledigen.
       Derweil, nicht im Fernsehen und nicht in der History-Soap, sondern ganz in
       Echtzeit im Landtag in Erfurt: Es entfaltet sich ein Drama, dessen
       psychopolitische Hintergründe nicht sehr viel anders sind.
       
       Doch [1][der „Tabubruch“ von Thüringen] brauchte keine 24 Stunden, um von
       der Farce zum Fiasko für die zu werden, die ihn sich ausgedacht haben. Ist
       das nun ein Skandal und eine Schande? Oder vielleicht doch eher ein Grund
       zum Feiern?
       
       Beides natürlich, wenngleich mit Schlagseite zu Letzterem. Einerseits haben
       erstmals Parteien des sogenannten bürgerlichen Zentrums, die sich selbst so
       gerne als „Mitte“ sehen, einen zynischen Pakt mit den Rechtsextremisten
       geschlossen, andererseits sind die klaren Reaktionen darauf eher ein
       Hinweis darauf, dass mit dem [2][Einreißen einer Brandmauer] vor der
       extremen Rechten so bald nicht zu rechnen ist: schnell schon zeigten sich
       hohe FDP-Leute ebenso empört wie die Spitzen der Bundes-CDU. Von Angela
       Merkel abwärts machten alle klar, dass die gerissene Mauschelei der
       Landes-Union nicht toleriert werden würde; auch der CSU-Chef und
       Bayern-Ministerpräsident Markus Söder sagte in schnörkelloser Klarheit,
       dass man sich von Nazis nicht wählen lässt.
       
       ## Nicht die hellsten Kerzen
       
       Sollten die Gambler Thomas Kemmerich, Mike Mohring, Christian Lindner, aber
       auch Sozi-Hasser wie Wolfgang Kubicki und andere, die von „bürgerlichen
       Mehrheiten“ unter Einschluss der AfD träumen, gedacht haben, sie wären
       Cleverles, die mit ihrer Trickserei durchkommen, so haben sie sich
       offensichtlich heftig getäuscht. Der harte Wind blies ihnen derart ins
       Gesicht, dass sie schnell umkippten.
       
       Ganz offensichtlich sind sie alle nicht die hellsten Kerzen auf der Torte
       und haben vergessen, ein paar Züge vorauszudenken, und hatten keinen Plan,
       wie sie mit der von ihnen geschaffenen Situation umgehen sollten. Kubicki
       freute sich zunächst, dann ruderte er zurück. Christian Lindner, in einer
       ersten Stellungnahme noch verschwurbelt, musste dann verzweifelt versuchen,
       aus der Nummer herauszukommen.
       
       Die Landes-FDP stellte 24 Stunden lang den Ministerpräsidenten, und sollte
       es tatsächlich zu Neuwahlen kommen, würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit
       schnurstracks aus dem Landtag fliegen.
       
       Ganz smarter Deal.
       
       ## Kernschmelze des Rechts-Pakts
       
       Die chaotische Kernschmelze des ersten deutschen Rechtspakts ist so gesehen
       natürlich eine gute Nachricht. Nicht nur für den Augenblick, sondern auch
       über diesen hinaus: Die Möchtegerntrickser haben sich allesamt dermaßen
       selbst geschadet, dass Nachahmer in der nächsten Zeit eher nicht ermutigt
       sein werden. Man vergleiche das nur mit jenen Ländern, in denen das
       bürgerliche Zentrum – mal schnell, mal allmählich – nach rechts gerückt
       ist, die Agenda des rechten Extremismus übernahm und mit den radikalen
       Nationalisten regierte, ob das jetzt Österreich ist, Italien, oder, auf
       wieder andere Weise, Ungarn oder Polen.
       
       In Österreich beispielsweise hat ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel schon
       im Jahr 2000 mit der ultrarechten FPÖ eine Regierung gebildet. Damals gab
       es einen Aufschrei, europaweite Sanktionen und Massenproteste, aber die
       Konservativen hielten dem Sturm stand. Sie normalisierten die Allianz mit
       jenen Ultrarechten, die sie kurz davor noch als „außerhalb des
       Verfassungsbogens“ sahen.
       
       Nach 2015 nahm Sebastian Kurz Kurs darauf, es ihm gleichzutun. Er übernahm
       weite Teile der Programmatik der extremen Rechten, kopierte ihre Rhetorik,
       etablierte eine Herrschaft der Niedertracht mitsamt rhetorischem
       Überbietungswettbewerb mit den Rechten – und am Ende bildete er mit ihnen
       eine Regierung. Regierungsallianzen mit extremen Rechten wurden zur
       Normalität umdefiniert, und all jene, die darin einen demokratiepolitischen
       Skandal sahen, zu „Hysterikern“. [3][Nur durch Glück – Stichwort „Ibiza“ –
       flog die Koalition aus der Kurve.]
       
       Kurzum: Die radikale Rechte kann mit populistischen Kampagnen, mit ihrer
       Hasspolitik und indem sie die Wut und Entfremdungsgefühle des „einfachen
       Volkes“ gegen „die abgehobenen Eliten“ instrumentalisiert, Wahlerfolge
       einfahren und auch die politische Debattenlage vergiften. Ja, sie kann auch
       einen so starken Block in Parlamenten stellen, dass Regierungsbildungen
       gegen sie schwierig werden. Aber für sich allein kann sie nicht gefährlich
       werden. Gefährlich wird es erst, wenn die (neo)konservative Rechte zu
       wackeln beginnt und ihr den Weg in Ämter und Staatsfunktionen ebnet.
       
       ## Starke Immunabwehr
       
       In Thüringen wurde der erste Schritt in diese Richtung versucht – und hat
       zu so starken Immunabwehrreaktionen geführt, dass das Experiment
       gescheitert ist.
       
       Aber wieso eigentlich? Erstens: Der demokratische, antifaschistische
       Konsens in den demokratischen Mitte-rechts-Parteien ist immer noch lebendig
       genug, sodass das Spiel mit dem Feuer nicht akzeptiert wird. Das hat schon
       auch etwas mit Lehren aus der Vergangenheit zu tun, mit einer
       demokratischen Grundübereinkunft, man könnte auch, mit einem Adorno-Wort
       sagen: mit „Erziehung nach Auschwitz“.
       
       Da die große, breite Mitte zumindest im westlichen Teil Deutschlands
       Bündnisse mit dem Rechtsextremismus noch mit einer klaren
       Immunabwehrreaktion quittiert, gibt es, zweitens, für Parteien wie die
       Union oder die FPD eine ganz klare politische Arithmetik. Biedern sie sich
       bei der extremen Rechten an, etwa um rechte Wähler zurückzugewinnen, so
       werden sie in der Mitte mehr Wähler verlieren, als sie an rechten Wählern
       gewinnen können. Die Sebastian-Kurz-Strategie – „die Rechtsextremen
       kopieren, um zu gewinnen“ – geht in den alten Bundesländern nicht auf. Das
       schönste Exempel dafür erbrachte die bayerische CSU. Sie setzte im Vorfeld
       der letzten Landtagswahl darauf, mit der Anti-Ausländer-Agenda der AfD zu
       konkurrieren. Erst als Markus Söder merkte, dass seine Partei erheblich an
       die Grünen zu verlieren drohte, zog er die Notbremse und gibt seither
       verlässlich den pragmatisch-liberalen Ökogutmenschen.
       
       ## Spaltung der politischen Mentalitäten
       
       Drittens: Ein wesentlicher Aspekt ist die fortwährende Spaltung der
       politischen Mentalitäten in Deutschland. In Westdeutschland kann sich die
       AfD nur als Stimme jener positionieren, die sich als chronisch ungehört
       ansehen. Und selbst das ist schwierig mit Figuren wie Gauland und Weidel,
       in ihren Tweedanzügen, genagelten Schuhen und schicken Kostümen, die ja
       nicht gerade für den populistischen Rächer der Enterbten taugen. In den
       sogenannten neuen Bundesländern kann sich die AfD aber als Ostpartei
       darstellen, die die Verwundungen und Kränkungen der Ostdeutschen
       repräsentiert – gegen die „Establishment-Parteien“, die allesamt irgendwie
       westdeutsch seien.
       
       Das ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass die AfD im Osten eine
       Volkspartei ist mit rund 25 Prozent Zuspruch, während sie im Westen davon
       weit entfernt ist. Das führt aber zu einem strategischen Dilemma der
       konservativen Mitte-rechts-Parteien CDU und FDP: Während sie im Osten
       glauben, sich ins rechte Fahrwasser begeben zu müssen, um nicht noch mehr
       Wähler an die AfD zu verlieren, wäre genau das im Westen eine fatale
       Strategie. Das führt zu innerparteilichen Konflikten, bei denen (noch?) die
       gewichtigeren West- und Bundesführungen der Parteien gegen die regionalen
       Landesparteien im Osten gewinnen.
       
       Dass das thüringische Experiment so schnell kollabierte, hat auch mit
       glücklichen Umständen zu tun. Die Höcke-AfD ist derart rechts, völkisch und
       irrsinnig, dass ein Pakt mit ihr noch schwerer zu rechtfertigen ist als
       anderswo; die CDU war bei der Landtagswahl der große Verlierer, die FDP kam
       kaum über 5 Prozent – was es unmöglich machte, auch nur irgendwie mit dem
       Wählerwillen zu argumentieren; dass ausgerechnet der Anführer der
       5-Prozent-Partei zum Ministerpräsidenten gewählt werden sollte, war nurmehr
       eine absurde Pointe, die dem Ganzen die Krone aufsetzte. Klar: Wären die
       Umstände einmal anders, könnte ein solches Abenteuer leicht anders
       ausgehen.
       
       Dennoch ist linke Miesepeterei völlig fehl am Platz. Man hört und liest es
       ja schon in manchen Kommentaren, und die Social Media sind voll mit der
       deprimierten Behauptung, dass der Tabubruch geschehen, damit ein Dammbruch
       vollzogen sei und beim nächsten Mal dann …
       
       ## Ein Erfolg der Demokraten
       
       Eine Linke, die stets verzweifelt nach der deprimierendsten Interpretation
       komplexer Wirklichkeiten sucht, ist Teil des Problems. Ihr fehlt es
       dermaßen an Selbstbewusstsein, dass sie nicht einmal bemerkt, wenn die
       Demokratie einen Sieg zu feiern hat. Dass die Farce von Erfurt so schnell
       wie ein Kartenhaus zusammenbrach, ist in allererster Linie der Tatsache zu
       verdanken, dass der Aufschrei laut war, dass die Stimmen, die den
       FDP-CDU-AfD-Coup rechtfertigten, total marginal blieben, dass faktisch alle
       meinungsbildenden Medien klare Kante zeigten. Die Mitte wankte eben nicht.
       Die liberale Demokratie erwies sich als wehrhaft.
       
       Das ist ein Erfolg der Demokraten. Man sollte ihn würdigen, nicht
       kleinreden.
       
       9 Feb 2020
       
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