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       # taz.de -- Jewish Chamber Orchestra Munich: Eminent wichtiges Lebenswerk
       
       > Seit 15 Jahren existiert das Jewish Chamber Orchestra in München. Unter
       > Leitung von Daniel Grossmann ist sein Ziel, jüdische Kultur hörbar zu
       > machen.
       
   IMG Bild: Mächtig was los: Das Orchester JCOM
       
       Die Kamera wandert entlang an den Elektro- und Stacheldrahtzäunen der
       ehemaligen Konzentrationslager, es sind Bilder aus den fünfziger Jahren,
       sie wechseln sich ab mit Archivmaterial aus Zeiten, als die Lager noch
       Lager waren. Es sind schockierende Bilder, krass, nichts für schwache
       Nerven.
       
       „Nacht und Nebel“ heißt der Dokumentarfilm von [1][Alain Resnais] aus dem
       Jahr 1956; im Moment läuft er auf dem Laptop, den Daniel Grossmann vor sich
       aufs Pult gestellt hat. Dazu spielt Musik von Hanns Eisler, dem jüdischen
       Komponisten, der auch die DDR-Nationalhymne komponiert hat. Die Musik
       jedoch kommt nicht aus den Lautsprechern, das Orchester sitzt live und
       leibhaftig vor Grossmann. „Könnt ihr noch mehr espressivo spielen“, bittet
       er, „trotz dem dreifachen Piano.“
       
       Es ist das Jewish Chamber Orchestra Munich, das hier in der Aula der
       Samuel-Heinicke-Realschule im Münchner Stadtteil Nymphenburg an einem
       Samstagnachmittag ihr nächstes Konzert probt. Stummfilme live musikalisch
       zu begleiten ist inzwischen schon zu einer Spezialität des Orchesters
       geworden. „Nacht und Nebel“ ist dabei jedoch eine Besonderheit, der Film
       ist ja eigentlich gar kein Stummfilm. Grossmann und seine Musiker behandeln
       ihn jedoch so, auch der originale Sprechertext – in der deutschen Fassung
       von [2][Paul Celan] – kommt nicht von der Tonspur, sondern wird von einem
       jungen Schauspieler live gelesen. Auch er hat einen Monitor vor sich. Der
       eingeblendete Timecode ist Richtschnur, für den Dirigenten, für den
       Sprecher.
       
       ## Leidenschaftlicher Dirigent
       
       Daniel Grossmann ist ein schlaksiger Typ, Brille mit kleinen Gläsern, die
       Haare stehen ihm etwas zu Berge. Der 41-Jährige ist der Dirigent des Jewish
       Chamber Orchestra Munich, aber wahrscheinlich würde man den übrigen
       Orchestermitgliedern noch nicht einmal zu nahe treten, wenn man sagen
       würde: Daniel Grossmann ist das Jewish Chamber Orchestra Munich.
       
       Vor 15 Jahren hat Grossmann das Orchester gegründet, Orchester Jakobsplatz
       [3][München] hieß es damals noch. Passte ja auch gut. Zu dieser Zeit stand
       gerade die Eröffnung des Jüdischen Gemeindezentrums mit der neuen
       Hauptsynagoge am Jakobsplatz an. Ein guter Anlass also. Und heute ein guter
       Grund, Jubiläum zu feiern. Das Jubiläum eines kleinen, aber längst
       etablierten Münchner Orchesters.
       
       Kurz zuvor im Büro des Orchesters. Es befindet sich im Souterrain,
       allerdings in der besten Gegend. Nördliche Auffahrtsallee, hier geht es
       direkt zum Schloss Nymphenburg. Grossmann erzählt, wie das alles gekommen
       ist mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich, kurz: JCOM. „Jay-Com“ sprechen
       sie den sperrigen Namen aus, als wäre es ein schickes Start-up. An der Wand
       hängt ein sehr münchnerisches Poster, das von einer gewissen Selbstironie
       zeugt. In großen Buchstaben steht darauf: „Viel schlimmer ist, dass wir in
       München ein Publikum haben, das jeden Reinfall zu einem einmaligen Erlebnis
       hochjubelt.“ Es ist ein Zitat aus einer der bekanntesten Münchner
       Fernsehserien, dem „Monaco Franze“.
       
       ## Faszination „Othello“
       
       Es muss ziemlich genau zu der Zeit gewesen sein, Anfang der Achtziger, als
       die Szene gedreht wurde, in der dieser Satz fiel, dass Daniel Grossmann
       beschloss, Dirigent zu werden. „Ich war drei Jahre alt. Mein Onkel Adam
       Fischer hat in der Oper,Othello' dirigiert, und ich war dort. Und das hat
       mich so fasziniert, dass ich gesagt hab: Das mach ich auch.“ Grossmann ist
       Münchner, stammt aus einer jüdisch-ungarischen Familie.
       
       Das Elternhaus ist nicht religiös, der Sohn wächst auf, ohne viel mit der
       jüdischen Gemeinde in Berührung zu kommen. „Aber es hat mich sehr gestört,
       dass es in München kaum [4][jüdisches Leben] gab. Hier kam das gefühlt alle
       paar Jahre vor, dass man einen Juden trifft.“ Als Jugendlicher beschäftigt
       sich Grossmann mit Komponisten, die Opfer im Holocaust wurden, und Werken,
       die sich mit dem Thema auseinandersetzten. Es wird immer mehr sein Wunsch,
       jüdische Kultur als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft sichtbar –
       und im besonderen natürlich auch hörbar – zu machen.
       
       So kommt es, etliche Jahre und Erfahrungen später und nach einer
       Dirigentenausbildung, unter anderem in New York und Budapest, zur Gründung
       des JCOM. Anfangs war es noch der Gedanke, ein Jugendorchester aus der
       jüdischen Gemeinde heraus zu gründen, doch der zerschlug sich bald.
       Stattdessen ist es nun ein hochprofessionelles Orchester, das jedes Jahr 20
       bis 30 Konzerte gibt. Selten wird ein Konzert mehrmals aufgeführt. 2.000
       bis 3.000 Partiturseiten müsse er im Jahr lernen, sagt Grossmann.
       
       ## Schweizer „Tatort“
       
       Auch auf Tournee waren die Musiker bereits: Israel, Schanghai, USA,
       Usbekistan... Einmal haben sie auch in einer Folge des Schweizer „Tatort“
       mitgespielt. „Die Musik stirbt zuletzt“ hieß der Film, der größtenteils im
       Konzerthaus in Luzern angesiedelt war und in einer einzigen Einstellung
       gedreht wurde.
       
       Jüdisch sind die wenigsten der insgesamt etwa 40 Musiker. Auch Bratschistin
       Charlotte Walterspiel nicht, die neben Grossmann an einem kleinen Holztisch
       sitzt. Walterspiel, Jahrgang 1960, hatte schon eine beachtliche Karriere
       hinter sich, als sie zu dem Orchester stieß, war rund 20 Jahre mit dem
       Chamber Orchestra of Europe in aller Welt unterwegs. „Für mich ist die
       Erfahrung der völkerübergreifenden Bedeutung von Musik extrem wichtig“,
       sagt die Bratschistin. Als sie vor rund zehn Jahren nach München kam, wurde
       sie Grossmann empfohlen. Er benötigte keine großen Überredungskünste,
       Walterspiel war sofort begeistert.
       
       Was sie an dem Orchester besonders schätzt: „Wir spielen immer Stücke, die
       sehr interessant sind, die man zum großen Teil auch noch nicht kennt und in
       der Form auch in Deutschland nicht oft hören kann.“ Überhaupt sei
       Grossmanns Ansatz sehr mutig. „Denn viele Veranstalter sagen: Wenn ihr
       nicht einen berühmten Solisten oder Dirigenten habt, dann laden wir euch
       schon mal gar nicht ein. Und bitte spielt nur die und die Stücke – damit
       der Saal voll wird.“
       
       ## Gesellschaftlicher Auftrag
       
       Aber was ist es denn nun, was das Orchester jüdisch macht? „Die Thematik“,
       sagt Grossmann. „Ich kenne kein anderes Orchester, das sich explizit so
       einem inhaltlichen Thema widmet und es so verfolgt.“ Was die Sache nicht
       unbedingt leichter macht. Nicht fürs Orchester, aber auch nicht fürs
       Publikum. „Wir bieten nicht Genuss, bei uns muss man schon irgendwie auch
       mitdenken“, erklärt der Dirigent. „Meistens haben unsere Konzerte auch eine
       thematische Idee, eben einen Ausschnitt aus dem Judentum.“
       
       Da reiche es nicht zu sagen: „Hier habe ich ein interessantes Werk von
       einem jüdischen Komponisten, und das spielen wir jetzt mal.“ Und
       Walterspiel assistiert: „Kunst muss immer auch einen gesellschaftlichen
       Auftrag erfüllen. Mir ist das im Kulturbetrieb oft zu sehr abgelöst vom
       richtigen Leben.“
       
       So hat das JCOM in dieser Saison eine Wiederaufführung der Oper „The Fall
       of the House of Usher“ von Philip Glass ebenso im Programm wie ein Konzert
       zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, die im
       Rahmen einer Opernschule entstandene Oper „Noahs Flut“ von Benjamin Britten
       und Stummfilmkonzerte, etwa Musik zu [5][Ernst Lubitschs] 1919 entstandenem
       Werk „Die Puppe“. Dazu kommen dann auch noch sogenannte Gesprächskonzerte,
       zu denen auch „Nacht und Nebel“ zählt: Dem Film geht ein Gespräch voraus,
       das Grossmann mit der Psychotherapeutin Eva Umlauf führt, die als
       Zweijährige Auschwitz überlebt hat.
       
       Aus dem Projekt ist längst ein Lebenswerk geworden. „Wenn ich mal was
       anderes machen sollte, dann was völlig anderes, nichts mehr mit Musik“,
       sagt Grossmann, denkt kurz nach und fügt hinzu: „Aber das kann ich mir
       schwer vorstellen.“ Die Musik stirbt eben zuletzt.
       
       16 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominik Baur
       
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