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       # taz.de -- Irland nach der Parlamentswahl: Selbstblockade in Dublin
       
       > Sinn Féin wird bei der Parlamentswahl überraschend stärkste Kraft. Aber
       > die bürgerlichen Parteien verweigern sich einer Koalition
       
   IMG Bild: Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald erhebt Anspruch auf das Amt der Premierministerin
       
       Irlands Wählerinnen und Wähler haben sich entschieden. Doch Klarheit haben
       sie bei den Parlamentswahlen am Samstag nicht geschaffen. Die jüngeren
       Wähler*innen haben jedoch deutlich gemacht, was sie nicht wollen: eine
       Fortsetzung der alten Politik, bei der sich die beiden konservativen
       Parteien Fianna Fáil und Fine Gael an der Macht abwechselten und sich
       [1][einen Teufel um die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft
       scherten].
       
       Profitiert hat davon Sinn Féin. Die Partei gewann mit 24,5 Prozent die
       meisten Erststimmen, weil sie im Wahlkampf Obdachlosigkeit, hohe Mieten und
       das katastrophale Gesundheitssystem in den Vordergrund rückte. Sinn Féin
       errang damit 37 von 160 Sitzen, ein Mandat weniger als Fianna Fáil, weil
       der Parlamentssprecher dieser Partei angehört und automatisch wiedergewählt
       wurde. Fine Gael kommt auf 35 Sitze.
       
       Sinn Féin hat sich in den vergangenen Jahren alle Mühe gegeben, das Image
       abzuschütteln, nur der politische Flügel der inzwischen aufgelösten
       Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu sein. [2][Die Parteivorsitzende Mary
       Lou McDonald] ist erst ein Jahr nach Unterzeichnung des Belfaster Abkommens
       vom Karfreitag 1998, das Nordirland Frieden brachte, in die Partei
       eingetreten. Bis dahin war sie Mitglied bei Fianna Fáil. Sie steht gewiss
       nicht im Verdacht, wie ihr Vorgänger Gerry Adams IRA-Mitglied gewesen zu
       sein.
       
       Die etablierten Parteien sind dennoch misstrauisch gegenüber Sinn Féin.
       Sicher, Fine Gael und Fianna Fáil sind Abspaltungen der IRA, aber das ist
       rund hundert Jahre her. Damals ging es um den Friedensvertrag mit der
       englischen Regierung, durch den Irland zwar de facto unabhängig wurde, aber
       auch Nordirland einbüßte. Aus den Befürwortern des Vertrags wurde Fine
       Gael, aus den Gegnern entwickelte sich Fianna Fáil. Das ist aber auch der
       Hauptunterschied, in ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik unterscheiden
       sich beide Parteien kaum.
       
       ## Karriereziel Taoiseach
       
       Deshalb haben sie bisher eine Große Koalition abgelehnt, da sonst alle
       merken würden, dass eine der Parteien im Grunde überflüssig ist. In den
       vergangenen vier Jahren hat Fianna Fáil eine Fine-Gael-Minderheitsregierung
       gestützt. Das ist auch Fianna Fáil am Samstag zum Verhängnis geworden, denn
       die Wähler machten sie für die unsoziale Politik mitverantwortlich. Eine
       Tauschgeschäft – eine Fianna-Fáil-Minderheitsregierung unter Duldung von
       Fine Gael – wäre für beide Parteien daher wenig ratsam.
       
       Fianna-Fáil-Chef Micheál Martin hatte bis zum Wahltag stets verkündet, dass
       eine Koalition mit Sinn Féin nicht in Frage komme. Kaum war das Ergebnis
       bekannt, änderte er seine Meinung, denn er will unbedingt Taoiseach werden,
       wie der Titel des Premierministers lautet. Alle seine Vorgänger an der
       Spitze von Fianna Fáil waren im Laufe ihrer Karriere Taoiseach.
       
       Für Sinn Féin wäre das ein großes Risiko. Die Unterstützung für die Partei
       ist nicht stabil. Viele haben sie gewählt, um den großen Parteien eins
       auszuwischen. Niemand rechnete damit, dass Sinn Féin plötzlich stärkste
       Partei würde – vor allem sie selbst nicht. So verschenkte sie mindestens
       ein halbes Dutzend Sitze, weil sie nicht genügend Kandidaten aufgestellt
       hatte. Sollte Sinn Féin sich in einer Koalition mit Fianna Fáil über den
       Tisch ziehen lassen, wären viele ihrer Wähler beim nächsten Mal wieder weg.
       
       Das neue Parlament kommt am 20. Februar erstmals zusammen. Sinn-Fein-Chefin
       McDonald erhob am Montag Anspruch auf den Posten der Regierungschefin. Sie
       führe bereits Gespräche mit kleineren linken Parteien, um auszuloten, ob
       eine Regierung ohne die beiden großen Mitte-rechts-Parteien möglich sei.
       Die Zahl der Sitze reicht aber dafür nicht aus. Mit Grünen und
       Sozialdemokraten käme Sinn Féin auf 66 Sitze. Vielleicht kämen noch ein
       paar Parteilose hinzu, aber die für eine Mehrheit nötigen 80 Abgeordneten
       wären auch dann nicht in Sichtweite. Es wird eine ganze Weile dauern, bis
       Irland eine Regierung hat.
       
       11 Feb 2020
       
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