# taz.de -- Jubiläumsausstellung der GAK in Bremen: Brutales Stimmengewirr
> Ihr 40-Jähriges feiert die Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst mit
> Kristina Buchs erster Einzelausstellung. Die ist gottlob gewalttätig.
IMG Bild: Zunge zeigen, Lauten den Lauf lassen: Kristina Buch arbeitet viel mit Sprache
Bremen taz | Zungenreden – die Cracks der Gottesgelehrtheit sprechen von
Glossolalie – ist eine besonders irre Erscheinung des Religiösen: Es steht,
meistens im Rahmen einer kultischen Handlung, eine Person auf und fängt an,
in einer Sprache, die sich von ihrer üblichen unterscheidet,
draufloszureden. Seit es sie gibt, also seit dem Apostel Paulus, [1][denkt]
christliche Theologie darüber nach, wie sie dieses Phänomen als
Herrschaftsmittel [2][in die religiöse Praxis integrieren] kann. Und man
kann sagen: je autoritärer die jeweilige Kirche – Katholiken, Zeugen
Jehovas und Pfingstler –, desto erfolgreicher ist sie damit. Eine deutende
Instanz muss halt entscheiden, ob es Gott ist oder irgendein anderer
Teufel, der die Mundmuskultatur des Gemeindeglieds heimsucht.
Schrecklich sei es, in die Hände Gottes zu fallen, [3][steht in der Bibel],
und das zu erleben ist quälend. Die Ausstellung „You can’t walk unless the
word runs“ zwingt genau dazu: Die titelgebende Video-Installation auf zehn
Flachbildschirmen, die die Künstlerin Kristina Buch direkt in den
Eingangsbereich der Gesellschaft für Aktuelle Kunst (GAK) gehängt hat,
hüllt alle, die auch nur darüber nachdenken, eine Eintrittskarte zu lösen,
in brutales Stimmengewirr. Zu sehen sind auf den Flatscreens auf und
zuklappende Mundpartien von Menschen, denen Silben ausströmen, wobei die
Bewegung der Zunge meist hinter den Zähnen verborgen bleibt, beim
Glossolalieren.
Unter dem politisch auch wieder eher zweifelhaften Begriff des
„Chatterbox-“ – also Quasselstrippen- – oder, etwas freundlicher,
„Cocktail-Party-Syndroms“ fasst das Klinische Wörterbuch des Wilibald
Pschyrembel derartige agrammatikalische Sprachstörungen. Aber auch
Pathologisieren hilft natürlich nicht, um sie auf Abstand zu halten: Der
Lärm, zu dem sich das vereinigt, ist auf die Dauer zweifellos
gesundheitsschädlich.
Zu verstehen ist dabei: nichts. Das ergibt ein eindrucksvolles, sehr
gewalthaltiges künstlerisches Statement, das einleuchten lässt, wie
charismatische Religionsgemeinschaften die Energien der Glossolalie in die
Aktivierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit umlenken: in tätige
Homophobie und aktiven Frauenhass.
## Körperlich unangenehm
Körperlich, also sehr unangenehm, das. Heißt: großartig, auch wenn die
Künstlerin selbst, studierte evangelische Theologin, diesem
religionssoziologisch gut nachweisbaren Zusammenhang wenig Interesse
entgegenzubringen scheint. Sie verklärt den Artikulationsüberschuss ohne
[4][Frontallappensteuerung] sogar zu „zarten und feurigen Botschaften“.
Und das scheint keine Ironie zu sein: Der Begleittext zu dieser ersten
Ausstellung im 40. Jahr des Bestehens der GAK und der ersten
institutionellen Einzelschau Buchs entwirft ein eher romantisches Bild:
„Die Glossolalie gallopiert frei und ungezügelt davon“, heißt es da. Na ja,
während die einen die Haare flattern lassen und den Wind im Gesicht
genießen, kommen die anderen halt unter die Hufe.
Ein Entkommen der Auftakt-Installation gibt es nicht, jedenfalls nicht so
ohne Weiteres: Es stimmt, wer die Kopfhörer aufsetzt und sich den Videos
mit der gewaltsamen Beseitigung von Mount Everest und Guggenheim Museum per
synchronisierter Sprengung im abgetrennten dunklen hintersten Raum der GAK
hingibt, bekommt von der Kakophonie des Entrées nix mehr mit: Da ist Ende
von Kunst und Ende von Natur und überhaupt Schluss.
Aber die vier aparten kleineren Arbeiten in der Nische weserseitig gleich
neben der Galerien-Kasse, eine Lichtgravur und drei Holzmosaike mit
versponnenen Titeln, werden volle Suppe zugedröhnt, was schade ist. Und das
Stimmengewirr erfüllt auch den zweiten Raum, aber das ist sinnig und
beabsichtigt: „Für mich ist es immer wichtig, dass jede Arbeit mit der
anderen kommunizieren, sprechen kann“, sagt Buch, und die motivische Nähe
ist fast schon überdeutlich.
Denn der große, trapezförmige GAK-Saal ist mit acht schmalen, aber über
drei Meter langen, eigens für diese Ausstellung gewebten fleischfarbenen
Fahnen besetzt, die von der Decke hängen. Wie Zungen. Und, im
[5][Jacquard-Verfahren] aus Seide und Baumwolle fabriziert, reproduzieren
die Stoffbahnen eben auch Nahaufnahmen von Zungen, positiv und negativ.
„That down payment. You forgot? Lost it? (no bills)“ hat Buch diese
Installation betitelt, zu deutsch in etwa: „Diese Anzahlung. Hast du die
vergessen? Verloren? (keine Rechnung)“. Und während das enigmatisch bleibt,
und die vom Begleittext aufgerufenen evolutionsbiologischen und
informatischen Assoziationsräume – das Interesse der Algorhitmus-Erfinderin
Ada Lovelace am Lochkarten-Webstuhl wird benannt und das Faktum, dass die
Zunge ursprünglich zum Detektieren von Giften dient – eher verdeckt, wird
doch deutlich, dass die Bewegung der Stoffzungenlandschaft mit dem Reden
zusammenspielt, das es überlagert.
Denn ja doch, sie bewegen sich: Wer die Installation durchstreift, wird von
ihr inkorporiert. Jeder Lufthauch versetzt das Fahnenmeer in Wallung. Und
jede Schwingung verändert den Raum, also die Welt. Und woher sie kommt, ist
niemals ganz klar. Wer das nicht aushält, muss an Gott glauben.
20 Feb 2020
## LINKS
DIR [1] https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/zungenrede-glossolalie/ch/1295c11b3c41225cde3e40f4d7a3ac16/
DIR [2] https://ezw-berlin.de/html/3_202.php
DIR [3] https://www.bibleserver.com/LUT/Hebr%C3%A4er10
DIR [4] https://static1.squarespace.com/static/52402ca4e4b0b7dd2fafe453/t/52603f68e4b0ef7617316f39/1382039400195/the-measurement-of-regional-cerebral-blood-flow-during-glossolalia-a-preliminary-spect-study.pdf
DIR [5] https://www.deutsches-museum.de/sammlungen/meisterwerke/meisterwerke-ii/webstuhl/
## AUTOREN
DIR Benno Schirrmeister
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