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       # taz.de -- Theaterstück in Linz: Eine Oper als Geschichtslabor
       
       > Der Künstler Peter Androsch inszeniert mit Jugendlichen eine Geschichte
       > aus Oberösterreich: „Die Schule“ im Musiktheater Linz.
       
   IMG Bild: Aus Peter Androschs Musiktheater „Die Schule oder Das Alphabet der Welt“
       
       Finstere Klänge begleiten den Einzug der Schülerinnen und Schüler in ein
       stilisiertes Klassenzimmer auf der Bühne des Musiktheaters Linz. Bassgeige
       und Kontrafagott dominieren den Auftritt der wie Puppen geschminkten
       Kinder, die schüchtern, gehorsam oder aufmüpfig hinter ihren Pulten Platz
       nehmen. Man hört, der Komponist der Oper „Die Schule oder Das Alphabet der
       Welt“ hält nicht viel von der Institution Schule.
       
       An der Tafel stehen in Kinderschrift zwei Dutzend Namen von Menschen, von
       denen während der zweistündigen Aufführung noch die Rede sein wird.
       Darunter Nazigrößen wie Adolf Eichmann und Ernst Kaltenbrunner. Aber auch
       der Dramatiker Hermann Bahr ist dabei, der Tenor Richard Tauber, der
       austro-kolumbianische Ethnologe Gerardo Reichel-Dolmatoff und der Astronom
       Johannes Kepler. Sie alle haben am Akademischen Gymnasium in Linz studiert,
       unterrichtet oder in dessen unmittelbarer Umgebung gewirkt, [1][wie Adolf
       Hitler] oder der ehemalige Nazi-Gauleiter August Eigruber.
       
       Alles begann mit einer Abiturrede. 2013 war der Komponist und
       Klangkünstler Peter Androsch, Abitursjahrgang 1981, eingeladen, die
       Ansprache zur Abitursfeier zu halten. Er nutzte die Bühne, um das System
       Schule und vor allem dessen Entwicklung zu geißeln: „Denn nicht die
       Verschiedenheit der Menschen, nicht ihr Individualität ist der Ansatzpunkt.
       Sondern die Standardisierung.“
       
       Wenig später landete eine E-Mail-Nachricht aus den USA in seiner Mailbox.
       Ein John S. Kafka aus Bethesda, Maryland, hatte die Rede im Alumni-Report
       des Gymnasiums gelesen. Und er stimmte Androsch zu. Der Jude Kafka, geboren
       1921 als Johannes Sigmund Kafka in Linz, wurde mit sechs Jahren zum Waisen.
       Als Vormund wurde Eduard Bloch bestellt, der ehemalige Hausarzt der Familie
       Hitler. Kafka hat sich später als Psychoanalytiker intensiv mit der
       Biografie seines Vormunds auseinandergesetzt.
       
       Noch kurz vor dem Anschluss Österreichs ans Hitlerreich konnte der
       Jugendliche zunächst nach Frankreich und dann in die USA fliehen, wo er
       sich John S. Kafka nennt. Seine E-Mail schloss er mit den Worten:
       „Vielleicht können Sie mich mit meiner Heimatstadt versöhnen.“
       
       Androsch begann sich darauf für die Geschichte seines Gymnasiums zu
       interessieren und durchwühlte auf Einladung der Direktorin im Rahmen eines
       Geschichtsprojekts mit Schülerinnen und Schülern das Archiv. „Dabei haben
       wir entdeckt, dass die Geschichte der Schule bis ins Jahr 1542
       zurückreicht. Sie wurde quasi als Protestanten-Uni gegründet und ist damit
       das älteste Gymnasiums Österreichs und eines der ältesten Europas.“
       Androsch ist von dem daraus entstandene Projekt begeistert: „Es ist die
       Geschichte der Schule, der Stadt, Europas und der Welt geworden! Kein
       Witz.“
       
       Tatsächlich lässt sich anhand der Persönlichkeiten, die das Gymnasium
       besucht oder in seiner Nähe gewirkt haben, das letzte halbe Jahrtausend im
       Mikrokosmos nachzeichnen. Johannes Kepler (1571–1630), der deutsche
       Naturphilosoph und Entdecker der Planetenbahnen, unterrichtete an der
       renommierten Schule, der der Kaiser den Universitätsstatus versagte, und
       lebte 15 Jahre in Linz.
       
       Vertrieben wurde er durch die Gegenreformation, die einen gewaltigen
       intellektuellen Kahlschlag anrichtete, den Androsch mit der
       Judenvertreibung der Nazis vergleicht: „Ganz Oberösterreich war damals
       protestantisch, und es gab nur drei Möglichkeiten: Rübe ab, Emigration oder
       Rekatholisierung“.
       
       Fast alle Gebildeten hätten den Weg ins Exil gewählt: „Geblieben sind nur
       die Armen und die Blöden.“ Androsch spricht von einem Braindrain, der den
       der Judenvertreibung unter den Nazis noch übertroffen habe: „200 Jahre gab
       es dann nichts mehr.“ Das heißt, Oberösterreich hatte intellektuell kaum
       Nennenswertes mehr hervorgebracht. Erst im 19. Jahrhundert tauchen wieder
       Schriftsteller wie Adalbert Stifter oder ein Komponist wie Anton Bruckner
       in der Landesgeschichte auf.
       
       Dass Oberösterreich bis heute ein besonders fruchtbarer Boden für
       rechtsextreme und deutschnationale Ideologien ist, führt Androsch auf das
       Trauma der Gegenreformation im 17. Jahrhundert zurück: „Die Leute, die
       dableiben mussten, waren nur an der Oberfläche katholisch. Sie haben
       neidisch in jene Länder geschaut, wo die Protestanten regierten. Da hat
       sich etwas wie die großdeutsche Sehnsucht entwickelt.“
       
       ## Hitler, Eichmann, Kaltenbrunner und Gauleiter Eigruber
       
       Mit Staat, Kirche und Kaiser hätten sie abgeschlossen. „Die wollen den
       österreichischen Staat nicht, das ist der Bodensatz, der Ende des 19.
       Jahrhunderts die großdeutsche Manie befeuerte und bis zur FPÖ heute führt.“
       So ist es für Androsch auch kein Zufall, dass vier der größten Verbrecher
       des 20. Jahrhunderts – Hitler, Eichmann, Kaltenbrunner und Gauleiter
       Eigruber – im Umkreis der Schule aktiv waren.
       
       Die Oper, für die Peter Androsch die Musik komponiert und am Libretto
       mitgeschrieben hat, arbeitet die letzten hundert Jahre der Schule auf. Aus
       den als Tableau vivant arrangierten Schülerinnen und Schülern erhebt sich
       immer wieder eine Stimme, besingt den gleichförmigen Schulalltag oder eine
       Szene aus dem Leben einer der Personen, deren Namen an der Tafel stehen.
       
       Zum Beispiel von Alfred Maleta und Angela Raubal, beide Abitursjahrgang
       1927, wie sie sich im Kürnberger Wald küssen und von einem Gewitter
       überrascht werden. „Geli“ Raubal war Hitlers Lieblingsnichte, die sich
       schon als Teenager den Ruf der Femme fatale erworben hatte. Auf dem
       Gruppenfoto mit Lehrer trägt sie ein aufreizendes weißes Kleid.
       
       ## KZ und Selbstmord
       
       Maleta engagierte sich später in der Vaterländischen Front des
       Austrofaschisten Engelbert Dollfuss und landete unter den Nazis im KZ. Nach
       dem Krieg brachte er es in der ÖVP bis zum Nationalratspräsidenten. Geli
       Raubal, die Sängerin werden wollte, beging 1931 nach einem Streit mit
       Hitler Selbstmord oder wurde von ihm erschossen.
       
       In Geschichte wurde diese Klasse von Hermann Foppa unterrichtet. Der
       Nationalsozialist der ersten Stunde entging nach dem Krieg nur knapp der
       Hinrichtung. Der Fürsprache seiner Lehrerkollegen verdankt er einen
       Freispruch durch das Volksgericht. „Seine Ideologie hat er aber nicht
       abgelegt“, sagt Peter Androsch.
       
       Foppa gründete 1949 mit Gesinnungsgenossen den Verband der Unabhängigen
       (VdU), die Vorgängerpartei der FPÖ. Unter den Gründern auch Robert Haider,
       der Foppa 1950 einlud, die Taufpatenschaft für seinen Sohn Jörg zu
       übernehmen. Der Nazi Foppa wird damit zum Bindeglied zwischen dem Dritten
       Reich und der FPÖ.
       
       Das Akademische Gymnasium liegt an der Spittelwiese, mitten im Zentrum von
       Linz, das Hitler als „Hauptstadt des Führers“ zu einer Metropole mit
       500.000 Einwohnern ausbauen lassen wollte. Gleich ums Eck, in der
       Bischofstraße 1, wohnte seit 1914 die Familie Eichmann aus Solingen.
       
       Adolf Eichmann, der den Holocaust logistisch plante, hat auch seinen
       Auftritt in der Oper, ganz im [2][Lichte der Banalität des Bösen]: „Ich bin
       an der Spittelwiese immer nur vorbeigangen. Nie bin ich hineingegangen. Ich
       kannte die Schule nur von außen. Ich bin in die Staatsrealschule gegangen,
       in der Fadingerstraße. Da habe ich auch Ernst Kaltenbrunner kennengelernt.
       Er hat es im Gegensatz zu mir bis zur Matura geschafft. Ich bin immer
       durchgefallen, so wie Hitler.“ Hitler besuchte die nahegelegene
       Fadingerschule gemeinsam mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein.
       
       Über die Website werden die Erkenntnisse aus dem Geschichtslabor der
       Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Einzelne Bilder und Zitate sind auch an
       den Fenstern der Klassenzimmer im Erdgeschoss montiert. In der
       verkehrsberuhigten Zone im Herzen der Linzer Altstadt ziehen die Exponate
       die Blicke der Passant*innen auf sich. Die Einheimischen müssen sich mit
       ihrer Geschichte konfrontieren.
       
       Peter Androsch freut sich: „Das ist sicher die meistbesuchte Ausstellung
       Österreichs.“
       
       14 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rezension-zu-Nazi-Satire-Jojo-Rabbit/!5656019
   DIR [2] /Graphic-Novel-ueber-Hannah-Arendt/!5647496
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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