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       # taz.de -- Hannah Arendts Band „Wir Juden“: Aktueller denn je
       
       > Ein Band versammelt Texte der Philosophin Hannah Arendt. Ihr Plädoyer für
       > den Kampf gegen Antisemitismus macht sie zu unserer Zeitgenossin.
       
   IMG Bild: Hannah Arendt im Jahr 1969
       
       Wenn es überhaupt jemandem gelungen ist, die Abgründe und Katastrophen des
       20. Jahrhunderts philosophisch zu durchdringen, so war es [1][die 1906 in
       Hannover geborene Hannah Arendt]. Sie tat das mit den begrifflichen Mitteln
       der [2][deutschen Existenzphilosophie] und jener des klassischen
       Griechenlands, aber: Sie tat dies als Jüdin – aus ihrer eigenen jüdischen
       Existenz heraus.
       
       Diese jüdische Existenz war im 20. Jahrhundert durch Emanzipation und
       Assimilation, durch Zionismus und den industriellen Massenmord an sechs
       Millionen europäischen Juden gekennzeichnet – glücklich, wem es wie Arendt
       gelang, durch Flucht und Emigration ebendiesem Schicksal zu entgehen.
       
       Es war Arendt, die stets betont hatte, dass, wenn man als Jude angegriffen
       wird, man sich als Jude verteidigen muss. Was das für Arendt im Einzelnen
       und konkret bedeuten konnte, belegt nun ein von Ursula Ludz und Marie Luise
       Knott herausgegebener Sammelband mit zum Teil bereits auf Deutsch
       publizierten, aber auch unpublizierten Texten Arendts aus den Jahren 1932
       bis 1966.
       
       Das Verdienst von Ludz und Knott besteht nicht nur in teils neuen
       Übersetzungen sowie sorgfältig verfassten textgeschichtlichen Kommentaren,
       sondern vor allem darin, Arendts 21 Texte in höchst übersichtlicher Weise
       in thematisch geordnete Kapitel gebracht zu haben.
       
       ## Arendt wird als Zeithistorikerin vorgestellt
       
       So steht das erste Kapitel, in dem es um Autoren wie Stefan Zweig und Franz
       Kafka, aber auch um das höchst aktuelle Thema „Flüchtlinge“ geht, unter der
       Überschrift „Für ein neues kulturelles Selbstbewusstsein“, während das
       zweite Kapitel – hier geht es vor allem um den Zionismus und die
       Staatsgründung Israels – mit „Für ein neues politisches Selbstbewusstsein“
       überschrieben ist. Das dritte Kapitel – und diese Perspektive ist neu –
       stellt Arendt dann unter dem Titel „Zur Erforschung des Holocaust“ als
       Zeithistorikerin vor. Arendts Zionismus entsprach dem, was im
       Vorkriegsdeutschland als „Nationaljudentum“ bezeichnet wurde und fand
       seinen Ausdruck in ihrer Forderung nach einer jüdischen Armee.
       
       So schrieb sie 1942: „Zu den Menschenrechten der Juden gehört unabdingbar
       das Recht, als Juden zu leben und, wenn es sein muss, zu sterben. Ein
       Mensch kann sich nur als das wehren, als was er angegriffen wird. Ein Jude
       kann seine Menschenwürde nur bewahren, wenn er als Jude Mensch sein kann.“
       Diesen Beitrag, der für das Aufstellen einer jüdischen Armee warb,
       verfasste Arendt zu einer Zeit, als sie noch Zionistin war – was sich am
       Ende des Krieges ändern sollte.
       
       Davon zeugen im vorliegenden Band vier Texte: [3][der berühmte, 1945
       publizierte Essay „Zionism reconsidered“], aber auch der 1948 auf Englisch
       verfasste Text, der Deutsch den Titel „Zur Rettung der jüdischen Heimstätte
       ist es noch nicht zu spät“ trägt, in dem Arendt für eine jüdisch-arabische
       Zusammenarbeit eintritt, ohne einen föderativen Staat für sinnvoll zu
       halten.
       
       ## Eine Theorie des Faschismus
       
       Bei alledem war sie nicht blind und hielt bereits 1950 über die arabischen
       Flüchtlinge fest: „Unabhängig davon, wie ihr Exodus aus Palästina zustande
       kam (als eine Folge arabischer Gräuelpropaganda oder wirklicher Gräuel oder
       aufgrund einer Mixtur von beidem), hat die während des Krieges von
       zionistischen Plänen für einen umfassenden Bevölkerungstransfer
       vorbereitete Flucht der Araber aus Palästina, auf welche die Weigerung
       Israels folgte, die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren zu lassen,
       schließlich die alte Behauptung der Araber über den Zionismus wahr werden
       lassen: Die Juden strebten bloß danach, die Araber aus ihren Häusern zu
       vertreiben.“ Ein Satz, der heute leicht als eine Form von „israelbezogenem
       Antisemitismus“ angegriffen werden könnte.
       
       Noch zu wenig debattiert und gewürdigt ist Arendts eigene, im Juni 1945
       skizzierte Theorie des Faschismus, in der sie den Antisemitismus als
       Kernelement eines jeden Faschismus ausweist und um den Nachweis bemüht
       ist, dass die Faschismen in Wahrheit gegen die Nation gerichtete
       internationale Bewegungen sind. Nur das erkläre auch die letztlich gegen
       das eigene Volk und das eigene Land gerichtete Politik der
       Nationalsozialisten.
       
       Ihr schon einmal auf Deutsch erschienener Aufsatz – er erschien in dem von
       [4][Eike Geisel] herausgegebenen Band „Nach Auschwitz. Essays und
       Kommentare“ – könnte aktueller nicht sein: „Tatsächlich ist der
       Antisemitismus eine der gefährlichsten politischen Bewegungen unserer Zeit.
       Der Kampf gegen ihn gehört zu den lebenswichtigsten Aufgaben der
       Demokratien, und wenn er überlebt, dann liegt darin eines der bedeutsamsten
       Anzeichen für künftige Bedrohungen.“
       
       Hannah Arendt ist unsere Zeitgenossin!
       
       30 Jan 2020
       
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