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       # taz.de -- Aris Fioretos' Roman „Nelly B.s Herz“: Berauschende Aufwinde
       
       > „Nelly B.s Herz“ heißt der neue Roman des schwedischen Autor Aris
       > Fioretos. Er erzählt die Lebensgeschichte der Berliner Flugpionierin
       > Melli Beese.
       
   IMG Bild: Melli Beese auf dem Flugplatz Berlin-Johannisthal, ohne Zeitangabe
       
       Kaum ein literarisches Konzept scheint derzeit erfolgreicher zu sein als
       das historisch-biografische Erzählen, vor allem wenn im Mittelpunkt die
       Lebensgeschichte einer erfolgreichen Frau, einer vergessenen Heldin der
       Zeitgeschichte steht.
       
       Interessant ist dabei, dass die Form dieser Geschichten größtenteils
       ziemlich bieder gestaltet ist und damit im Gegensatz zur wilden Vita der
       Rebellinnen steht. Umso erfreulicher, wenn biografische Literatur gelingt,
       und dann noch auf so überzeugend hohem Niveau wie im Roman „Nelly B.s Herz“
       des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos.
       
       Geboren 1960 in Göteborg, und zwar als Sohn einer Österreicherin und eines
       Griechen, studierte Fioretos Literaturwissenschaften in Stockholm, Paris
       und an der renommierten Yale University, und tatsächlich ist seinen Texten
       immer eine erstaunliche Weltläufigkeit anzumerken.
       
       Auch im aktuellen Werk schafft es der Autor, Grenzen zu überwinden, indem
       er beispielsweise aus der dürftigen Quellenlage eine Überfülle des
       literarischen Empfindens entwickelt und damit neue, nämlich fiktive
       Charaktere schafft, die trotz der historischen Distanz lebendig und
       glaubhaft wirken.
       
       Als Vorlage für „Nelly B.s Herz“ dient die Geschichte der Berliner
       Flugpionierin Melli Beese, die 1886 in einem Vorort von Dresden geboren
       wurde, die erst Bildhauerei in Stockholm studierte und die an ihrem 25.
       Geburtstag als erste Frau in Deutschland eine Fluglizenz erwarb.
       
       ## Flugschule in Berlin-Johannisthal
       
       Mit ihrem französischen Mann eröffnete Melli Beese eine Flugschule in
       Berlin-Johannisthal, die sehr erfolgreich war, während des Ersten
       Weltkriegs aber geschlossen wurde. „Wenig ist bekannt, was nach dem Krieg
       geschah“, schreibt Fioretos im Nachwort zu seinem Roman, den er eine
       „literarische Fantasie“ nennt. Tatsächlich ist dieser Text fantastisch im
       besten Sinne.
       
       Schon die Entscheidung für eine reine Rollenprosa ist mutig, denn Fioretos
       schlüpft über die Ich-Erzählung nicht nur in eine Frauenfigur aus einer
       anderen Epoche, er entwickelt zudem ein Geflecht von unterschiedlichen
       Motivsträngen, die einige Erzählrisiken, nämlich großes Kitschpotential,
       bergen: Zum Auftakt des Romans wird der Heldin eröffnet, dass sie unter
       einer Verdickung der Herzwände leide und dass die Krankheit
       lebensbedrohlich sein könne, wenn sie weiterhin in dünneren Luftschichten
       unterwegs sei.
       
       Für Nelly ist es kaum vorstellbar, auf das Fliegen zu verzichten, nachdem
       sie nicht nur massive Vorurteile überwunden, sondern auch bösartige
       Sabotage der männlichen Konkurrenz ausgehalten hat. Selbst einen
       Flugzeugabsturz überlebte sie, Krieg und Hausarrest ebenso. Wird nun
       ausgerechnet ein krankes Herz die resolute Frau am Boden halten?
       
       Der unberechenbare Muskel wird zumindest künftig noch unruhiger schlagen,
       was auch an der rauschhaften Liebesbeziehung liegt, die Nelly mit der
       flatterhaften, zeitweilig bisexuellen Modedesignerin Irma eingeht. Alles
       ändert sich im Leben der Titelheldin. Sie trennt sich von ihrem Mann Paul,
       gibt einen Job bei BMW auf, lebt in den Tag hinein und steigt auch wieder
       ins Cockpit, um mit der Geliebten nach Polen zu fliegen.
       
       ## Keine Verklärung der 1920er Jahre
       
       Doch die Pilotin zahlt einen hohen gesundheitlichen Preis für den Ausflug,
       der nur mit steigender Medikamentendosis zu schaffen ist und der nicht nur
       emotional mit einer Bruchlandung endet. Irma möchte sich nicht binden,
       sucht das nächste Abenteuer, dieses Mal wieder mit einem Mann, und aus
       Nellys doppeltem Herzleiden entwickelt sich bald ein schlimmes Drogendrama.
       Der endgültige Absturz droht.
       
       Aris Fioretos hat einen Roman geschrieben, der nach dem ersten Drittel
       deutlich an Fahrt gewinnt, und während der Lektüre wird deutlich, dass die
       Wahl der Erzählperspektive nicht nur literarische Herausforderung ist,
       sondern auch viele Möglichkeiten bietet. Denn sowohl die Herzmetaphorik als
       auch die immer wieder eingestreuten Flugmotive werden von Nelly auf
       selbstironische Weise relativiert.
       
       Lakonisch auch ihr Verhältnis zur ständig wachsenden Abhängigkeit von
       dubiosen Tropfen und Dämpfen: „Wüsste ich es nicht besser, würde ich
       annehmen, dass die Ampullen Aufwind enthielten.“
       
       So lässig sich die Erzählerin gibt, so verletzlich und verletzt zeigt sie
       sich. Diese Literatur ist auf unterhaltsame Weise ausgewogen. Klar und
       ruhig ist die Prosa, während es in den Flugzeugen, die Nelly steuert,
       bestimmt laut war und oft geruckelt hat. Das lautmalerische Spiel mit
       Geräuschen und Gerüchen, mit haptischen und olfaktorischen
       Sinneseindrücken, im Bett und auf der Straße, ist so stilsicher wie
       überraschend.
       
       Auch die Nebenstränge des Romans, etwa die Beziehungen in der Pension, in
       der Nelly nach Auszug aus der ehelichen Wohnung lebt, sind in der
       Gesamtkonstruktion überzeugend eingebaut. Was jenseits dieses gekonnten
       Handwerks noch lange nachhallt, sind die eindringlichen Schilderungen, wie
       sich Mensch und Maschine verbinden können, wie der Text eine Selbstfindung
       behutsam vorantreibt, die sich keineswegs in einer eindimensionalen
       Identität erschöpft.
       
       Nelly erkennt leider zu spät, dass sie mehrere Leben gleichzeitig führt.
       „Lange habe ich geglaubt, es gäbe mich nur in einer Auflage.“ Sie möchte
       aber Ehefrau, Geliebte und Freundin sein, außerdem Pilotin und harte
       Handwerkerin. Doch den Wunsch, die verschiedenen Rollen selbstbestimmt
       auszuleben, kann sich die 39 Jahre alte Frau nicht mehr erfüllen, und das
       liegt nicht zuletzt an einer so verunsicherten wie restriktiven
       Gesellschaft.
       
       Im Rückblick werden die 1920er Jahre oft als goldenes Zeitalter verklärt.
       „Nelly B.s Herz“ zeigt hingegen auf subtile Weise, dass die politischen
       Umbrüche und Widersprüche dieser Dekade nicht zum Mythos taugen. Auch in
       dieser Hinsicht erweist sich Aris Fioretos als kluger und eleganter
       Romancier.
       
       5 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carsten Otte
       
       ## TAGS
       
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