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       # taz.de -- Vizevorsitzende der SPD Serpil Midyatli: Nicht schnacken, sondern anpacken
       
       > Als 16-Jährige verdiente Serpil Midyatli ihr erstes Geld in der Pizzeria
       > ihres Onkels. Heute ist sie Vizevorsitzende der SPD. Was treibt sie an?
       
   IMG Bild: Sie erkennt Aufgaben und packt an: SPD-Vize Serpil Midyatli
       
       Kiel taz | Nur eine einzige Kellnerin ist für das komplette Lokal
       zuständig. Serpil Midyatli beobachtet eine Weile, wie die Frau mit Tabletts
       und Tellern vorbeieilt, dann rutscht sie aus der Sitzbank und bietet ihre
       Mithilfe an. Den Job und den Ort kennt sie bestens: Die heutige
       Landtagsabgeordnete, stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und
       Parteichefin in Schleswig-Holstein, hat bereits als Schülerin in diesem
       Lokal als Aushilfe gearbeitet. „Ich bin hier tausendmal hin und her
       gelaufen.“
       
       Als Midyatli als 16-Jährige ihr erstes Geld verdiente, betrieb ihr Onkel in
       diesen Räumen am Kieler Westring eine Pizzeria, heute führen ihre Brüder
       mit dem „Mega Saray“ ein Restaurant mit moderner türkischer Küche.
       Midyatli, die Älteste von vier Geschwistern, fühlt sich immer noch ein
       bisschen verantwortlich und muss sich selbst versichern: „Die beiden sind
       inzwischen alt genug.“
       
       Nach Midyatlis überraschender Wahl zur Partei-Vize beim SPD-Parteitag im
       Dezember sprachen Medien von einem erstaunlichen Ergebnis, einem
       „unwahrscheinlichen Erfolg“. Dabei steckt Midyatlis Erfolgsrezept bereits
       in dieser kurzen Szene: Sie erkennt Aufgaben, packt an, statt lang zu
       schnacken, lässt aber auch andere ran. Sie ist schnell, spontan und kann
       organisieren.
       
       Aber hat sie einen Plan, eine Agenda? Ihr Einstieg in die Politik war
       eigentlich gar nicht geplant, sondern geschah fast zufällig. Während des
       Wahlkampfs im Jahr 2000 nahm sie als Unternehmerin an einer Podiumsrunde
       der SPD mit der damaligen Ministerpräsidentin Heide Simonis teil. Auf der
       Bühne geriet sie in Rage über die Kampagne des hessischen
       Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
       von in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern. „Es wird über
       uns geredet, aber nicht mit uns!“
       
       ## Chancen lässt sie nicht ungenutzt
       
       Auf die Frage, ob sie nicht in die SPD eintreten wolle, „habe ich noch auf
       der Bühne Ja gesagt“, sagt sie heute. 2009 zog sie über die Liste in den
       Schleswig-Holsteinischen Landtag ein, übernahm dort Themen wie Kita und
       Integration. Ralf Stegner, der langjährige Landesparteichef, galt als ihr
       Fan und Förderer.
       
       Auch bei der Wahl zur Vizevorsitzenden der Bundes-SPD gab es ein
       Zufallselement: Weil die Riege der Stellvertreter*innen von drei auf fünf
       erweitert wurde, bekam die Frau aus dem kleinen Landesverband ihre Chance.
       
       Aber Zufall hin oder her: Serpil Midyatli nutzt solche Gelegenheiten
       geschickt. Sie hielt eine fulminante Rede und erhielt mit knapp 80 Prozent
       das beste Ergebnis der Stellvertreterriege. Und wenn sie eine Aufgabe
       übernommen hat, packt sie an.Schon als Neumitglied hatte sie sich im
       Ortsbeirat im Kieler Stadtteil Gaarden Wirtschaftsfragen angenommen.
       
       Gaarden gilt als sogenannter Brennpunkt, in dem viele Einkommensschwache
       und migrantische Familien leben. Midyatli hat den größten Teil ihrer
       Kindheit und Jugend in Gaarden verbracht, nachdem die Familie zunächst in
       Mettenhof wohnte. Die Hochhaussiedlung wurde in den 60er Jahren als
       modernes Viertel für Angestellte gegründet, doch später zogen
       einkommensschwächere Menschen in die westdeutsche Variante der
       Plattenbausiedlung. Midyatlis Eltern gehörten dazu.
       
       ## Alle Hürden überwunden
       
       Sie stammten aus der Türkei. Der Vater kam, um bei dem Werftunternehmen HDW
       zu malochen. Die Mutter folgte später nach. Serpil Midyatli wurde 1975
       geboren. Die Eltern waren ehrgeizig und voller Ideen: „Mein Vater stellte
       fest, dass es kein Lokal gab, in dem große Familien feiern konnten“,
       berichtet sie.
       
       Diese Feststellung war die Geburtsstunde des „Mega Saray“, des „großen
       Palastes“ im Herzen von Gaarden: ein türkisches Lokal mit Festsaal und
       Catering. In diesem Lokal hat Serpil Midyalti Nervenstärke und
       improvisieren gelernt: „Es waren 300 Gäste angemeldet, und es kamen 400 –
       die muss man dann alle satt kriegen“, sagt sie.
       
       Als 18-Jährige übernahm Midyatli die Geschäftsführung für den Saalbetrieb
       und das Catering. Der Onkel, bei dem sie vorher gejobbt hatte, hatte das
       vorgeschlagen. Dabei stand die junge Frau kurz vor ihrem Abitur und war
       Schulsprecherin, ihr erstes öffentliches Amt.
       
       Nichts davon war in der ersten Klasse zu erwarten gewesen: Die Lehrerin
       ließ sie und ihre Geschwister hinten im Raum Bilder malen, weil sie annahm,
       „die Türken“ verstünden kein Deutsch und würden ohnehin bald wieder gehen.
       Dabei sprach Serpil Midyatli die Sprache bestens, und eine Rückkehr kam für
       die Eltern, die ihr Geld in das Lokal gesteckt hatten, nie infrage.
       Midyatli wiederholte die erste Klasse, die nächste Lehrerin förderte sie.
       
       ## Ständig am Arbeiten
       
       Mit Bestärkung der Eltern wechselte sie aufs Gymnasium. Der Plan hieß
       Studium: „Ich habe an Jura gedacht.“ Doch nach der Entscheidung der
       Familie, sie solle ins Geschäft einsteigen, ging sie von der Schule ab: „Es
       war nicht so, dass ich eine Wahl gehabt habe“, sagt sie und fügt gleich
       hinzu: „Ich bin froh, dass sich mein Lebensweg so entwickelt hat.“
       
       Dass sie – anders als die meisten Berufspolitiker*innen – weder den
       höchsten Schulabschluss noch Studium hat, na und? „Ich habe kein Problem
       damit.“ Im Gegenteil: Sie freue sich darüber, dass der Landtag diverser
       werde und verschiedene Lebensläufe zulasse. Sie war die erste Muslima im
       Kieler Parlament. Der Glaube ist ihr wichtig, auch wenn sie nicht streng
       die Regeln befolgt: Ein Glas Wein ist in Ordnung, Kopftuch hat sie nie
       getragen.
       
       Inzwischen hat Midyatli selbst zwei Söhne, 16 und 10 Jahre alt. Beruf und
       Familie haben für sie immer zusammengehört: Vier Tage vor der Geburt ihres
       Sohne pachtete sie mit ihrem Mann die „Räucherei“, ein Kieler Kultlokal und
       Veranstaltungszentrum. Heute kümmert sich ihr Mann um Haushalt und Kinder,
       hält ihr den Rücken frei. Aber die Regel, „wer selbstständig ist, muss
       ständig arbeiten“, hat Midyatli verinnerlicht.
       
       Das gilt ebenso für die Politik: Jeder Termin lässt sich zum Netzwerken
       nutzen, für ein Gespräch am Rand. Die Kielerin will die Bodenhaftung
       behalten, will „wissen, wie die Lebenswirklichkeit aussieht“. In einer
       Selbstbeschreibung nennt sie „auf Menschen zugehen“ als Kern ihres
       Politikstils: „Denn es geht für mich darum, Alltagsprobleme zu lösen.“
       
       ## Ralf Stegner nannte sie einst „einen Vulkan“
       
       Sie kann scharf werden und ihre Position pointiert verteidigen. „Hat noch
       jemand einen Zwischenruf parat?“, rief sie während einer Debatte um das
       Kita-Gesetz in den Plenarsaal. „Gern doch, ist nur ein Ansporn!“
       
       Härte braucht sie auch, weil sie als [1][Frau mit Migrationshintergrund]
       doppelt kritisch betrachtet wird. Hassbotschaften und Pöbeleien, vor allem
       gegenüber Ehrenamtlichen, seien ein riesiges gesellschaftliches Problem,
       für das es eine Lösung geben müsse, sagt Midyatli. Sie persönlich habe sich
       davon nie beirren lassen. Da spricht die Serpil Midyatli, die [2][der
       ehemalige Landesparteichef Ralf Stegner] als „Vulkan“ bezeichnet.
       
       Mit Stegners „direkter Art“ sei sie „immer gut klargekommen“, sagt
       Midyatli, die ebenfalls als Parteilinke gilt. Dass sie als
       [3][Landesvorsitzende] antrat, obwohl Stegner im Amt bleiben wollte, habe
       mit der Lage der Partei zu tun gehabt, dem „Frust nach dem Verlust“ der
       Landesregierung im Mai 2017. „Es war das Gefühl an der Basis, dass sich an
       der Spitze etwas ändern musste.“ Sie sei angetreten, „weil ich meinen
       Beitrag leisten wollte“.
       
       Inzwischen hat sie ihren politischen Ziehvater auch im Bundesvorstand
       abgelöst. Geholfen hat der Wechsel nicht, eine aktuelle Umfrage sieht die
       SPD in Schleswig-Holstein bei 20 Prozent, 7 Punkte weniger als 2017.
       
       Midyatli bleibt optimistisch, auch für die Bundes-SPD: „Wir haben ein neues
       Führungsduo, es gibt einen Neuanfang.“ Sie setzt auf „Zukunftsthemen“, etwa
       Kita-Politik oder die Veränderungen der Arbeitswelt durch Digitalisierung.
       In der Landespartei will sie mehr Teamarbeit und „dicht an den Themen
       bleiben, die im Alltag der Menschen wichtig sind“. Dazu gehöre der Mut,
       Positionen zu ändern, wenn die sich als falsch erweisen. Und ihr Beispiel
       soll andere ermutigen, sich politisch zu engagieren: „In der SPD ist Platz
       für alle, und der Weg nach oben ist offen.“
       
       18 Feb 2020
       
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