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       # taz.de -- Spiegel veröffentlicht neue Standards: Du sollst nicht lügen
       
       > Über ein Jahr nach den Enthüllungen um Claas Relotius veröffentlicht der
       > Spiegel neue Standards. Es ist ein Bekenntnis zu journalistischen Regeln.
       
   IMG Bild: Gestapelte Spiegel-Ausgaben
       
       Nach einer Krise folgt die Aufarbeitung, im besten Fall. Beim Spiegel hieß
       die letzte große Krise Claas Relotius und die Aufarbeitung übernahm
       [1][zunächst eine dreiköpfige Kommission, bestehend aus internen und
       externen Mitgliedern].
       
       In deren im Mai letzten Jahres veröffentlichten Bericht war bereits von
       einem „Richtlinienpapier“ die Rede, in dem „Erzählstandards,
       Recherchestandards und Verifikationsregeln“ für den Spiegel neu formuliert
       werden sollten.
       
       Dieses ist nun fertig und wurde am Montag allen Redakteur*innen des
       Hamburger Medienhauses vorgelegt und auch auf der Website des Spiegel
       veröffentlicht. In drei Arbeitsgruppen – genannt „die Spiegel-Werkstatt“ –
       diskutierten und stritten in den vergangenen Monaten rund 50
       Mitarbeiter*innen des Hauses. Herausgekommen sind [2][74 Seiten
       Spiegel-Standards], verbindlich für ausnahmslos alle in Redaktion und
       Dokumentation.
       
       Das neue Regelwerk des Spiegel bildet also, so kann man es also deuten, den
       Abschluss der Aufarbeitung um den Fälscher Claas Relotius. Es geht darin um
       den Umgang mit Quellen, die Frage nach der eigenen Haltung, Fehlerkultur
       und Sprache.
       
       ## Erschreckend banal
       
       Es ist etwas mehr als ein Jahr her, da hat der Fall [3][Claas Relotius] den
       Spiegel und die Medienbranche erschüttert. Relotius, der gefeierte
       Journalist und Reporter, wurde als Betrüger enttarnt. Damals lud der
       Spiegel Medienvertreter*innen zu einem Pressegespräch nach Hamburg ein,
       informierte über den Fall, und kündigte eine „transparente Aufarbeitung“
       an. Der frühere Leiter des Gesellschaftsressorts Matthias Geyer verlies den
       Spiegel kurz darauf, ebenso ein Dokumentar. Und der Verlag richtete
       außerdem eine Ombudsstelle ein, die Hinweisen von möglichen Betrugsfällen
       nachgehen soll.
       
       Vieles liest sich in dem neuen Spiegel-Standard deshalb auch wie eine
       direkte Antwort auf den Fall Relotius. Konkret sind das Sätze wie „Eine
       Geschichte muss stimmen“ oder „Es geht immer zuerst um Tatsachen, nicht um
       deren Überhöhung oder Interpretation“. Dass eines der wichtigsten deutschen
       Medienhäuser so etwas in ein Regelwerk schreibt, wirkt erschreckend banal
       und überflüssig, bedenkt man, dass Relotius Geschichten und
       Protagonst*innen tatsächlich erfand, dann ist es wieder verständlich.
       Insgesamt scheint das Papier teils Versicherung nach innen und nach außen
       zu sein: Hier gelten journalistische Standards.
       
       Die mangelhafte Unternehmenskultur im Umgang mit Fehlern hatte einen großen
       Beitrag dazu geleistet, dass Relotius so lange unentdeckt bleiben konnte.
       Die Aufklärungskommission schrieb in ihrem Bericht vom Mai 2019, die
       Kritik- und Fehlerkultur sei beim Spiegel „nicht sehr ausgeprägt“.
       
       Im Spiegel-Standard finden sich jedoch zur Fehlerkultur nur schlappe zwei
       Seiten. Da heißt es, dass man mit Fehlern offen umgehen und Fehlerquellen
       strukturell beheben wolle. „Dazu gehört eine vertrauensvolle, kommunikative
       Atmosphäre, in der sich Beschäftigte nicht eingeschüchtert fühlen.“ In
       Konferenzen soll künftig über häufige Fehlerquellen, Streitfälle, aber auch
       über die Abläufe und Standards der Verifikation diskutiert werden. Außerdem
       wird die Dokumentation wiederkehrende Fehlermuster bei Kolleg*innen
       überwachen und analysieren. Das heißt, in der berühmten
       Factchecking-Abteilung des Hauses könnten bald individuelle Fehlerprofile
       vieler Autor*innen hinterlegt sein.
       
       ## Nicht mehr ganz so generisches Maskulin
       
       Das neue Regelwerke ist aber nicht nur eine Antwort auf Relotius, sondern
       reagiert auch auf die [4][gerade erst vollendete Fusion der Bereiche Print
       und Online]. Unter der alten neuen Dachmarke Spiegel arbeiten seit
       September letzten Jahres die zuvor streng getrennten Print- und
       Onlinekolleg*innen zusammen. Seit Januar steht der an die neue
       Arbeitssituation angepasste Onlineauftritt.
       
       Im Zuge der Fusion wurden das durch Relotius schwer beschädigte
       Gesellschaftsressort aufgelöst, und es wurden neue Ressorts geschaffen (das
       Ressort „Leben“) oder zusammengelegt. Und weil nun eben so vieles neu und
       anders ist, findet Chefredakteur Steffen Klusmann es „sinnvoll und
       notwendig, uns in dieser Form noch einmal auf unsere handwerklichen und
       journalistischen Grundsätze zurückzubesinnen“.
       
       Überraschend, fast revolutionär wirkt da die Ankündigung, dass künftig im
       Spiegel das generische Maskulinum nicht mehr Standard sein soll. Diese
       Regelung in die neuen Standards aufzunehmen sei schwer gewesen, heißt es
       aus dem Haus. Von „Kulturkampf“ ist die Rede. Vielleicht deshalb steht da
       jetzt im Spiegel-Standard: „Alle streben an, in ihren Texten beide
       Geschlechter abzubilden“. Klingt nach Kompromiss: Streben ist anders als
       müssen.
       
       Außenwirkung als Spiegel-Mitarbeiter*in 
       
       Lustig ist, dass im neuen Spiegel-Statut ein Unterpunkt „Auftritt in
       sozialen Netzwerken“ Kolleg*innen darauf hinweist, dass sie auf Twitter,
       Facebook und anderen Sozialen Netzwerken „immer als Mitarbeitende des
       Spiegel wahrgenommen werden, auch wenn sie unter Pseudonymen auftreten“.
       Wer den Hinweis „hier privat“ in seiner Biografie stehen habe, sei davor
       nicht geschützt.
       
       Stefan Ottlitz, Verantwortlicher für die Produktentwicklung des Spiegels,
       twittert selbst unter dem Namen „@hierprivat“. In seiner Beschreibung
       steht: „Findet es lustig, wenn man ‚hier privat‘ in die Bio schreibt, und
       hat deshalb ein weises Handle.“
       
       4 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-abschlussbericht-der-aufklaerungskommission-a-1269110.html
   DIR [2] https://www.spiegel.de/backstage/nach-diesen-standards-arbeitet-der-spiegel-a-d80c52f5-fa6e-4463-a8de-513f15fcb29b
   DIR [3] /Ein-Jahr-Faelscher-Skandal-beim-Spiegel/!5647490
   DIR [4] /Relaunch-beim-Spiegel/!5651273
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
       
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