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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Das Haselnuss-Imperium
       
       > Der weltweit drittgrößte Süßwarenhersteller Ferrero will noch größer
       > werden. Die Kleinbauern und die Umwelt haben dabei das Nachsehen.
       
   IMG Bild: 10,7 Milliarden Euro Umsatz macht das italienische Familienunternehmen Ferrero heute
       
       Noch bevor man eintritt, riecht man es. Eine Mischung aus Kakao und
       gerösteten Haselnüssen, die Kindheitserinnerungen weckt. Auf einem
       Fließband werden kleine Waffelkugeln mit Schokocreme befüllt, auf einem
       zweiten sind sie mit ganzen Haselnüssen bestückt. Der Prozess ist
       vollständig automatisiert, doch in jeder Phase kontrollieren zwei Arbeiter,
       ob die Nüsse die richtige Größe haben, und passen auf, dass die Schokocreme
       nicht überläuft. Dann werden die Kugeln mit zwei Lagen Kuvertüre aus
       flüssiger Schokolade und Nussstreuseln überzogen und zum Schluss in
       Goldpapier gewickelt – fertig sind die Ferrero Rocher.
       
       Die Fabrik liegt ganz in der Nähe des Zentrums von Alba, dem
       piemontesischen Städtchen, in dem vor über 60 Jahren die Geschichte des
       Familienbetriebs begann, dessen Produkte die ganze Welt erobern sollten.
       10,7 Milliarden Euro Umsatz macht Ferrero heute, aufgeteilt in 94
       Gesellschaften mit 25 Fabriken auf fünf Kontinenten.
       
       Die Ferrero-Story kann als Symbol und Paradigma gelten für den Kapitalismus
       made in Italy – eine Mischung aus Erfindergeist und Handwerkskunst,
       Wachstumstalent und Veredelung des Produkts. Der Gründervater Pietro
       Ferrero war Konditor in Alba. Mitten im Krieg kam er auf die Idee, die
       Haselnüsse der piemontesischen Landschaft Langhe als Ersatz für die immer
       teurer und schwieriger zu beschaffende Schokolade zu verwenden. Er
       entwickelte eine Masse aus Kakao in Pulverform, Kokosöl und Haselnüssen,
       die er als Tafeln unter dem Namen Giandujot vermarktete.
       
       Das Produkt ließ sich schneiden und aufs Brot legen, und als die Nachfrage
       in die Höhe schnellte, kurbelte Ferrero die Produktion an und
       industrialisierte zusammen mit seinem Bruder Giovanni den Handwerksbetrieb.
       Ab 1952 wurde die Creme in Gläser gefüllt und unter dem Namen „Supercrema“
       vermarktet. Es war die Geburt eines Massenprodukts, das Pietros Sohn
       Michele 1964 Nutella tauft und damit etwas erschafft, das zum Synonym für
       streichbare Schokocreme überhaupt werden wird.
       
       ## Generationenwechsel an der Spitze
       
       Michele Ferrero übernimmt im Alter von 32 Jahren die Leitung und bringt die
       Firma nochmals rasant voran. Es entstehen neue Produkte – 1956 Mon Chéri,
       1969 Tic Tac, 1974 Kinder-Überraschung, 1982 die goldenen Ferrero Rocher –
       und neue Absatzmärkte: Zuerst Deutschland, dann Frankreich, Irland,
       Großbritannien – bis es schließlich nach Übersee geht, in die USA und alle
       wichtigen Länder außerhalb Europas.
       
       Während sich der Umsatz vervielfacht, hält man sich noch an die alten
       Regeln: Keine Schulden machen, Wachstum nur mit kalkulierbarem Risiko und
       enger Kontakt zur Heimatregion. Hauptproduktionsort bleibt Alba, auch wenn
       die Zentrale ins Steuerparadies Luxemburg verlegt wird.
       
       Michele Ferrero arbeitet unermüdlich und wird dafür von den Beschäftigten
       respektiert. Sie profitieren von Zuschüssen im Gesundheitsbereich und
       kostenlosen Kitas für ihren Nachwuchs. Als Michele 2015 stirbt, ehrt die
       Stadt Alba ihn mit der Umbenennung eines zentralen Platzes. Den Betrieb
       übernimmt sein Sohn Giovanni.
       
       Der neue Chef gibt sich jovial, ist aber angriffslustig. Er glaubt, dass
       man immer weiter wachsen muss, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können.
       Und so beginnt er einzukaufen: 2015 übernimmt Ferrero für 112 Millionen
       Pfund (157 Millionen Euro) den britischen Schokoladenhersteller Thorntons.
       Wenige Monate später ist das Süßwarengeschäft von Nestlé in den USA an der
       Reihe, für 2,8 Milliarden Dollar (2,3 Milliarden Euro), im Sommer 2019 dann
       die Kekssparte von Kellogg’s für 1,3 Milliarden Dollar. Ebenfalls 2019 wird
       der spanische Eiscremehersteller Comaker für rund 100 Millionen Euro
       übernommen.
       
       ## Nutella als „glokales“ Produkt
       
       Während viele uritalienische Marken von ausländischen Firmen geschluckt
       werden, geht Ferrero den umgekehrten Weg. Ferrero aus Alba ist heute ein
       Multi und der drittgrößte Süßwarenhersteller der Welt. Geht es nach Chef
       Giovanni Ferrero, dem reichsten Mann Italiens, dessen Vermögen das
       Forbes-Magazin auf 22 Milliarden US-Dollar schätzt, soll das Unternehmen
       noch weiter wachsen.
       
       Sieht man sich die Zukäufe an, dann fällt auf, dass sich Ferrero in einem
       Geschäftsfeld engagiert, das nicht gerade als zukunftsträchtig gilt,
       nämlich dem der zuckerreichen Lebensmittel. Aber die Firma setzt darauf,
       dass sie mit Nutella und Dutzenden anderer Produkte weiterhin Erfolg hat.
       Jedes Jahr werden weltweit 350 000 Tonnen Nutella produziert. Jeder kennt
       die Creme, in 170 Ländern wird sie verkauft, Deutschland ist der größte
       Absatzmarkt, gefolgt von Frankreich, Italien und anderen europäischen
       Ländern.
       
       Heutzutage würde man ein Produkt wie Nutella als „glokal“ bezeichnen: Die
       Hauptproduktionsstätte liegt in Alba, doch die Rohstoffe kommen aus aller
       Herren Länder: Palmöl aus Indonesien und Malaysia, Kakao aus Westafrika und
       Ecuador, europäischer Rübenzucker und Rohrzucker aus Südamerika. Und dann
       natürlich die Haselnüsse. Der Bedarf ist gigantisch. „Wir nutzen Nüsse aus
       ganz unterschiedlichen Regionen“, erzählt CEO Marco Gonçalves von der
       Ferrero Hazelnut Company. „Wir wollen die Bezugsquellen zwar
       diversifizieren, aber unser größter Markt bleibt die Türkei.“
       
       ## „Ferrero ist der Tod der Haselnuss!“
       
       Mit 70 Prozent Anteil an der globalen Produktion ist die Türkei
       Weltmarktführer. Von den Toren Istanbuls bis zur georgischen Grenze
       dominieren die Haselnusssträucher entlang der Schwarzmeerküste die
       Landschaft. Es sind zumeist Kleinbauern, die die insgesamt 700 000 Hektar
       bewirtschaften. Sie verkaufen an Zwischenhändler, die die Ware dann an die
       Exportfirmen und die verarbeitende Industrie weiterverkaufen.
       
       In Ordu und Giresun, zwei Städtchen am Schwarzen Meer, ist die Haselnuss
       Königin. Überall sieht man Bilder der fındık, wie die Nuss auf Türkisch
       heißt. Man verkauft sie geröstet, gemahlen für Süßspeisen oder als Paste
       für Eiscreme. Es gibt viele Kunden, aber einer sticht sie alle aus:
       Ferrero. Ohne die türkischen Früchte hätte die Firma Probleme, ihre
       Produktion am Laufen zu halten.
       
       Kürzlich besiegelt durch die Städtepartnerschaft zwischen Alba und Giresun,
       wirkt das Verhältnis des italienischen Konzerns und der Schwarzmeerregion
       wie eine Vernunftehe. Ferrero nimmt den Türken etwa ein Drittel ihrer
       Produktion ab. Die Kleinbauern können nicht mehr auf den piemontesischen
       Partner verzichten. Doch in letzter Zeit kriselt es. „Ferrero ist der Tod
       der Haselnuss! Raus aus unserem Dorf! Nimm deine schmutzigen Hände weg von
       unseren Nüssen!“, stand eines Tages auf einer Mauer im Dorf Aydındere.
       
       Weniger aggressiv, aber nicht minder deutlich sagen viele: Der italienische
       Multi beherrscht den Markt wie ein Monopolist. „Ferrero bestimmt die
       Preise, die Bauern müssen tun, was die Firma will“, sagt Rıfkı Karabulut,
       Vorsitzender des Verbands der Agraringenieure von Giresun, der die Erzeuger
       berät.
       
       Dass der Konzern schon zu viel Macht hat und Ambitionen hegt, bald die
       gesamte Produktionskette unter seine Kontrolle zu bringen, ist unter den
       Bauern und in der weiterverarbeitenden Industrie in der Türkei
       unbestritten.
       
       2014 hat Ferrero Oltan übernommen, mit mehr als 500 Millionen Dollar Umsatz
       türkischer Marktführer bei der Gewinnung, Verarbeitung und Vermarktung von
       Haselnüssen. Oltan kontrolliert heute zwischen 20 und 30 Prozent des
       Welthandels mit Haselnüssen.
       
       Die EU-Kommission hat die Übernahme abgesegnet, von einer
       marktbeherrschenden Position Ferreros sei nicht auszugehen. Dabei hat sich
       Grundlegendes verändert: Ferrero ist jetzt nicht mehr ein – wenn auch
       bedeutender – Käufer unter vielen; der Konzern ist nun auch
       Haselnussverkäufer.
       
       ## Die Liberalisierung der Branche
       
       „Den Markt teilen eine Handvoll Firmen unter sich auf, die Konzentration
       nimmt weiter zu“, betont Dursun Oğuz Gürsoy, Vorsitzender des gleichnamigen
       Konzerns, der Haselnüsse und Haselnussprodukte an die Industrie und den
       Handel verkauft. In seiner Fabrik am Rand von Ordu sagt der Chef „mit 42
       Jahren Erfahrung in der Branche“, heute gebe es nur noch fünf
       Großexporteure. „Vor 20 Jahren waren es 55. Ferrero bestimmt die Preise und
       kann Konkurrenten aus dem Markt drängen. Das Problem ist, dass der Staat
       den Markt nicht mehr reguliert.“
       
       Wenn schon die türkischen Industriellen Schwierigkeiten haben, gegen den
       Giganten Ferrero anzukommen, wie geht es dann erst den Kleinbauern?
       Nurettin Karan sitzt in Giresun der Landwirtschaftskammer vor, die in jeder
       türkischen Provinz die Interessen der Hersteller vertritt. In seinem Büro
       hängt das unvermeidliche Foto von Staatsgründer Atatürk an der Wand, auf
       dem Regal stehen verschiedene, mit geschälten Haselnüssen gefüllte Gläser.
       
       Karan, der uns in einem eleganten dunklen Anzug empfängt, erklärt: „Die
       Grundstücke sind zu klein, die Hersteller werden immer älter, Dünger und
       Pflanzenschutzmittel immer teurer. Aber der Hauptgrund für die derzeitige
       Krise ist die Privatisierung, die nur einige Akteure begünstigt und die
       anderen in die Knie gezwungen hat.“
       
       Was Karan meint, ist die von der Weltbank geforderte und von der Regierung
       Recep Tayyip Erdoğans umgesetzte Liberalisierung der Branche. Bis ins Jahr
       2000 wurde die Ernte von einer halbstaatlichen Gesellschaft aufgekauft, der
       Fiskobirlik, die sie dann auf dem Markt anbot. 1938 gegründet, versammelte
       die Fiskobirlik 210 000 Erzeuger. „Die größte Bauernunion der Welt“, sagt
       Karan. Die Fiskobirlik zahlte den Produzenten einen garantierten Preis in
       Abstimmung mit den Herstellungskosten und dem durchschnittlichen
       Ernteertrag.
       
       ## Verlust des kollektiven Rituals
       
       Die Schuldenkrise, die Abwertung der türkischen Lira und die zunehmend
       schwindenden Ressourcen haben die Regierung dazu veranlasst, das System
       umzumodeln und Fiskobirliks Funktion herunterzuschrauben.
       
       Aus einer subventionierten halbstaatlichen Institution wurde ein
       privater Akteur, der für die Erzeuger kein Referenzpunkt mehr ist: Sie
       verkaufen nun an eine Vielzahl von Zwischenhändlern, die nicht die
       kritische Masse aufbringen können, um gute Preise für die Waren zu erzielen
       – und das, obwohl die türkischen Haselnussbauern 70 Prozent der weltweiten
       Produktion erzeugen.
       
       In dieses Vakuum hat Ferrero sich platziert und diktiert nun seine Regeln:
       „Fiskobirlik hat aus den Kleinbauern eine Einheit geschmiedet“, sagt Karan.
       „Jetzt bestimmt der Markt die Preise; und langsam, aber unaufhaltsam
       zerbröselt eine einst gewinnbringende Branche, von der eine ganze Region
       gut gelebt hat.“
       
       Alaaddin Yilmazer kann sich noch gut an die Sommertage erinnern, als er auf
       den Feldern seiner Familie Nüsse erntete. „Zusammen mit unseren Nachbarn
       haben wir ganze Säcke gefüllt, es hat Spaß gemacht. Die ganze Gemeinde war
       auf den Beinen bei diesem kollektiven Ritual.“
       
       Rund um das Dorf Çoteli, eine Autostunde von Giresun entfernt, stehen die
       zum Meer hin abfallenden Hügel voller Haselnusssträucher. Es ist
       wunderschön hier, die Sträucher tragen gerade Blüten, aus denen später die
       Früchte wachsen. Die gerade mal zwei Hektar ermöglichten es Yilmazers
       Eltern, ihn und seine zwei Brüder zum Studieren nach Istanbul zu schicken.
       
       25 Jahre lang hatte er in der quirligen Metropole und im Ausland gelebt,
       bevor er mit 43 Jahren beschloss, noch mal neu anzufangen. Er ging zurück
       in die Heimat, um sich um seine alte Mutter zu kümmern, „ein weniger
       aufregendes Leben zu führen“ und wieder Landwirtschaft zu betreiben. „Heute
       komme ich mit den Nüssen aber nur über die Runden, weil ich Single bin und
       keine großen Ansprüche habe. Die Zeiten, wo das hier eine Goldgrube war,
       sind vorbei.“
       
       ## „Es gibt Kinderarbeit, keine Frage“
       
       Das Dorf ist nicht mehr, wie es war, die Jungen fehlen, die Ernte machen
       jetzt Saisonarbeiter. „Im Sommer kommen hier Zehntausende her, ganze
       Familien, zumeist Kurden aus dem Osten“, erzählt Yilmazer. Maschinen kann
       man auf dem abschüssigen Terrain nicht einsetzen. In Gruppen von 10 bis 15
       Personen ziehen sie durch die Hügel und verdienen an einem 12-Stunden-Tag
       zwischen 65 und 85 Lira (10 bis 13 Euro). Der Lohn wird für jedes Dorf
       festgelegt und die Rekrutierung der Erntehelfer von Agenten übernommen.
       
       Diese Agenten, dayıbaşı genannt, gehören schon lange zur türkischen
       Landwirtschaft. Seit Jahrzehnten organisieren sie den alljährlichen Zug der
       Erntearbeiter aus dem armen Osten in den wohlhabenderen Westen, sie sorgen
       für Unterkünfte – häufig in provisorischen Zelten am Rande der Felder – und
       behalten dafür einen Teil des Lohns ein. International wird diese Praxis
       kritisiert, weshalb sich die Regierung bemüht, die Sache administrativ in
       den Griff zu bekommen.
       
       Die dayıbaşı müssen sich mittlerweile registrieren lassen. Von
       staatlicher Seite werden Unterkünfte gestellt, und die Beschäftigung von
       unter 16-Jährigen ist verboten worden. „Es ist besser geworden in den
       letzten Jahren, aber noch immer sieht man Kinder zwischen den Bäumen“, sagt
       Yilmazer.
       
       Bei Ferrero bestreitet man nicht, dass es Probleme gibt in der Türkei:
       „[1][Es gibt Kinderarbeit], keine Frage“, sagt Gonçalves. „Wir arbeiten mit
       verschiedenen Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation
       zusammen und suchen sehr ernsthaft nach einer längerfristigen Lösung.“
       
       Bis 2020 hat sich Ferrero zum Ziel gesetzt, seine Lieferkette vollständig
       offenzulegen. Außerdem soll den Erzeugern mit technischem Support geholfen
       werden, die Erträge zu steigern. Aber auch hier gibt es Skepsis, ob der
       Konzern nicht einfach die Produktion direkt kontrollieren, das Land kaufen
       oder eine Art contract farming etablieren möchte. Die Bauern würden sich in
       Subunternehmer verwandeln, die Autonomie wäre dahin.
       
       Gonçalves bestreitet diesen Vorwurf, aber er weiß um den Ruf, den Ferrero
       in der Türkei inzwischen hat. Es ist kein Zufall, dass die Diversifikation
       der Anbau- und Bezugsgebiete vorangetrieben wird. [2][In Chile hat der
       Konzern 4000 Hektar gekauft, die er selbst bewirtschaftet.] Auch in
       Südafrika, Georgien und Serbien ist man aktiv geworden.
       
       ## Monokultur mit dramatischen Folgen
       
       In Italien, dem weltweit zweitgrößten Anbaugebiet für Haselnüsse, hat man
       die Initiative Nocciola Italia lanciert, um die aktuelle Anbaufläche von 70
       000 Hektar auf mindestens 90 000 auszudehnen. Dabei soll die Frucht auch in
       Regionen kultiviert werden, in denen sie bisher untypisch ist wie in
       Molise, Umbrien, der Toskana oder den Abruzzen.
       
       Das mittelitalienische Viterbo ist mit 22 000 Hektar die Provinz mit der
       größten Anbaufläche für Haselnüsse. In den 1950er Jahren begann der
       intensive Anbau, der sich dann in den 1980er Jahren steigerte, als die
       industrielle Nachfrage anzog. Hier bringt der Hektar zwei- bis dreimal so
       viel Ertrag wie in der Türkei, zwischen 200 bis 300 Kilo. Zudem kann hier
       mit Maschinen geerntet werden. Ein neu gepflanzter Hektar kann nach fünf
       Jahren 5000 Euro Gewinn bringen. Eine beträchtliche Summe in der
       italienischen Landwirtschaft.
       
       Bis 2025 möchte Ferrero hier noch einmal 10 000 Hektar zupflanzen. Famiano
       Crucianelli gefällt das nicht. „Dieses Projekt gefährdet die Biodiversität
       und führt zu einer radikalen Veränderung des Landschaftsbilds“, sagt der
       Vorsitzenden des lokalen bio-distretto, eines Ortsverbands des
       International Network of Eco Regions. „Die Haselnuss ist eine große
       Ressource für diese Gegend, aber sie muss mit Respekt für die Umwelt
       angebaut werden. Hier wird exzessiv Chemie eingesetzt und eine
       Kulturlandschaft in eine Monokultur verwandelt.“
       
       Doch über solche Aussagen besteht keine Einigkeit in Viterbo. Die örtlichen
       Erzeuger und ihre Verbände sagen, es handle sich um eine romantische Sicht
       auf die Landwirtschaft. „Um keine Frucht muss man sich so wenig kümmern wie
       um die Haselnuss“, sagt Pompeo Mascagna von Assofrutti, dem größten
       Erzeugerverband der Region, der mit Ferrero einen langjährigen Vertrag
       abgeschlossen hat: 75 Prozent der Ernte gehen an die Firma im Piemont. „In
       der Provinz Viterbo wachsen auf weniger als 9 Prozent der Gesamtanbaufläche
       Haselnusssträucher. Das ist doch absurd, da von einer Monokultur zu
       sprechen. Sicher, in einigen Gegenden, rund um den Lago di Vico etwa, ist
       die Konzentration dann schon höher.“
       
       Diese Monokultur rund um den See hat dramatische Folgen, erklärt Giuseppe
       Nascetti, Dekan der Fakultät für Ökologie und Biologie der Università della
       Tuscia in Viterbo. „Der See ist in einem komatösen Zustand. Die
       Produktionssteigerung der letzten Jahre hat zu einer starken Eutrophierung
       der Gewässer geführt, verursacht durch Phosphor und Stickstoff, die
       Bestandteile von Düngemitteln und Pestiziden sind.“
       
       ## Keine Nüsse aus biologischem Anbau
       
       Man müsse zusammenarbeiten, um Entwicklung und Umweltinteressen in Einklang
       zu bringen, ist sich Nascetti sicher. Das Dilemma scheint sich dabei
       derzeit überall in der Landwirtschaft zu wiederholen: Wie können die
       Erzeuger ihr Auskommen sichern, ohne dass die Natur zerstört wird? Famiano
       Crucianelli übt scharfe Kritik am Nutella-Produzenten: „Ferrero weigert
       sich, Nüsse aus biologischem Anbau zu kaufen. Sie wertschätzen das Produkt
       nicht, sondern folgen einer extraktiven Logik und setzen dabei ganz auf den
       Einsatz von Pflanzenschutzmitteln.“
       
       Ferreros Firmenpolitik lässt keine Zweifel: Man kauft keine Nüsse aus
       biologischem Anbau, weil die Ware einen möglichst niedrigen Anteil an
       Bittergeschmack haben soll – und dafür müssen die Pflanzen zahlreichen
       Behandlungen unterworfen werden. „Uns geht es um hohe Qualitätsstandards,
       wir wollen das Beste für die Verbraucher“, sagt Gonçalves. Doch der Manager
       schließt nicht aus, dass man sich in Zukunft anders orientieren könne.
       „Für den Durchschnittsverbraucher bedeutet Qualität heute etwas anderes als
       früher. Wenn der Markt es hergibt, gehen wir auf jeden Fall mit.“
       
       In einer Welt, in der die Konsumenten immer mehr Wert auf Umweltschutz und
       die gesundheitliche Verträglichkeit von Lebensmitteln legen, scheint
       Ferrero einen eigenen dritten Weg gewählt zu haben: So bemüht sich der
       Konzern zwar um eine größere Nachhaltigkeit und Transparenz in der
       Lieferkette, [3][die Zutatenliste] der Produkte bleibt jedoch unverändert –
       selbst wenn diese damit aktuellen Konsumtrends widerspricht. Eine
       Philosophie, die durch die neuen Aktivitäten der Gruppe auf beiden Seiten
       des Atlantiks bestätigt zu werden scheint.
       
       Giovanni Ferrero bleibt jedenfalls optimistisch. Seine Familie, ist er
       überzeugt, hat einen Mythos geschaffen, der allen Wechselfällen der
       Gegenwart gewachsen ist. Während er weiter fröhlich auf
       Milliarden-Einkaufstour geht, scheint er den Skeptikern ins Ohr zu
       flüstern: Was wäre das für eine Welt, in der es kein Nutella gibt?
       
       Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
       
       12 Feb 2020
       
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