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       # taz.de -- Dokumentarfilm auf der Berlinale: Nicht mehr in der Welt zuhause
       
       > Kazuhiro Sodas Film „Seishin 0“ begleitet einen Psychiater und seine an
       > Demenz erkrankte Frau. Sensibel und geduldig erzählt er vom Alter.
       
   IMG Bild: Alles endet mit Händen, die einander halten: Frau und Herr Yamamoto
       
       Masatomo Yamamoto ist Psychiater in der Stadt Okayama. Seit den sechziger
       Jahren hat er sich für die Liberalisierung der Psychiatrie, für offene
       Türen in den Anstalten, für den humanen Umgang mit den Patienten engagiert.
       Im Jahr 2008 porträtierte [1][Kazuhiro Soda] ihn und die Klinik in einem
       Dokumentarfilm mit dem Titel „Seishin“, der im Forum der Berlinale gezeigt
       wurde. Nun kehrt der Regisseur zurück, zu Herrn Yamamoto und ins Forum der
       Berlinale, wo er seitdem häufig zu Gast war.
       
       Herr Yamamoto ist nun 82, geht in den Ruhestand, sieht ein letztes Mal
       seine Patienten, die er zum Teil seit Jahrzehnten betreut. Kazuhiro Soda
       und die Kamera sind dabei, und damit auch wir. Seine Praxis besteht aus
       einem winzigen, etwas unaufgeräumten Zimmer, Arzt und Patient am Tisch,
       einander zugewandt, kein großer Abstand, der Tisch steht nicht zwischen
       ihnen.
       
       Es steht überhaupt sehr wenig zwischen dem Arzt und seinen Patienten, er
       nimmt sie, so schlicht wie pathetisch gesagt, einfach als Menschen. Man
       sieht die Dankbarkeit der Patienten, sie sprechen von ihrer Furcht davor,
       sich nun auf einen neuen Arzt, Herrn Fujita, einlassen zu müssen. Yamamoto
       beruhigt sie: Sie können ihn weiter am Handy erreichen.
       
       Man sieht Herrn Yamamoto, einen alten Mann, der mit unendlicher Geduld
       zuhört, der gelegentlich Ratschläge gibt und viel lacht. Als ihm ein Mann
       einen Brief überreicht, aus dem hervorgeht, dass er akute Geldnöte hat,
       zückt Yamamoto sein Portemonnaie und holt Scheine und Münzen heraus. Nicht
       die 4000 Yen, die der Patient sich wünscht, aber doch 3000. Es ist klar,
       dass dies nicht die erste Verhandlung, nicht die erste großzügige Gabe
       dieser Art ist.Soda dieser Verantwortung gerecht. Wenn Herr Yamamoto seine
       Frau zur Toilette begleitet, bleibt Soda auf Abstand und stellt den Ton ab.
       
       ## Yushiko wirkt erloschen, versunken, hilflos
       
       Schon im ersten Teil des Films, der nicht durch Kapitelangaben oder
       dergleichen unterbrochen wird, sieht man den Arzt gelegentlich auf privaten
       Wegen. Seine Frau neben ihm. Sie wird nicht eingeführt, man begreift nach
       und nach, dass sie in der Welt nicht mehr ganz zu Hause ist. Etwa, weil sie
       nicht versteht, wie sich die Tür, durch die sie seit Jahrzehnten die Praxis
       verlässt, öffnen lässt. Sie spricht wenig, wirkt erloschen, versunken,
       hilflos. Herrn Yamamotos Frau Yushiko ist dement.
       
       Die längste Zeit konzentriert sich „Seishin 0“ dann auf die beiden. Herr
       und Frau Yamamoto leben weiter zusammen. Es scheint, als sei es allein ihr
       Mann, der sie – die vieles nicht mehr selbständig leisten kann – zu Hause
       betreut. Über Jahrzehnte, das räumt der Arzt ein, hat seine Frau sich damit
       arrangiert, dass die Patienten, die Klinik und der Beruf für ihn das
       Wichtigste waren. Nun muss Zeit für die einst hochintelligente, neugierige
       Frau sein, mit der er seit der Schulzeit sein Leben geteilt hat – man sieht
       sie kurz, hellwach, in Ausschnitten aus dem früheren Film.
       
       Es ist ein sehr intimer Raum, in den sich Kazuhiro Soda und seine Kamera
       begeben. Umso intimer, als Yushiko Yamamoto nicht mehr in der Lage ist, das
       Ausmaß dieser Anwesenheit zu begreifen. Die Situation verlangt Takt, ein
       Wissen um die Verantwortung für das Vertrauen, das ihm von den Yamamotos
       entgegengebracht wird. Soweit man das als Außenstehender beurteilen kann,
       wird Kazuhiro Soda dieser Verantwortung gerecht. Wenn Herr Yamamoto seine
       Frau zur Toilette begleitet, bleibt Soda auf Abstand und stellt den Ton ab.
       
       ## Als wäre man bei alten Freunden zu Besuch
       
       Und das ist das Äußerste. In zwei langen Szenen ist er, ist man einfach
       dabei. Ein Essen, Herr Yamamoto hat Sushi bestellt. Frau Yamamoto bietet
       dem Regisseur ein Getränk an. Er stellt Fragen, sie antwortet wenig. Es
       geschieht weiter nichts, ganz so, als wäre man bei alten Freunden zu
       Besuch, mit denen man, weil alles vertraut ist, nichts weiter tut, als ein
       wenig zu reden, ein wenig zu essen, ein wenig zu trinken, ein wenig zu
       schauen, ein wenig zu schweigen.
       
       Die zweite lange Szene: Besuch der Yamamotos an den Gräbern seiner Eltern
       und Großeltern auf einem kleinen Friedhof vor der Stadt. Damit – genauer
       gesagt mit einem freeze frame auf die Hände des alten Paars, die einander
       halten – endet der Film.
       
       Man muss Geduld mitbringen für „Seishin 0“, weil Kazuhiro Soda Geduld
       mitgebracht hat. Geduld mit den Yamamotos, Geduld mit dem Alter und seinen
       verlangsamten Rhythmen und Abläufen, Geduld mit der Situation einfacher
       Anwesenheit. Zweimal verlässt „Seishin 0“ den intimen Raum, folgt auf der
       Straße einer stummelschwänzigen Katze (auf Augenhöhe), filmt Jugendliche.
       Dann geht es zurück zu den Alten. Es ist etwas sehr Bewegendes in alldem.
       
       21 Feb 2020
       
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