# taz.de -- Deutsches Kino auf der Berlinale: Wege in die Zukunft
> Die Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino bietet aufstrebenden
> Filmemachern ein Forum. Ihr aktueller Jahrgang ist wagemutig.
IMG Bild: Genrekino über deutsche Albträume: Gro Swantje Kohlhof in „Schlaf“ von Michael Venus
Sind wir Deutschen dazu verdammt, uns mit der Vergangenheit
auseinanderzusetzen? Müssen wir uns immer wieder fragen, warum es so
gekommen ist, wie es kam? Zwei der interessantesten Beiträge, die in diesem
Jahr in der Perspektive Deutsches Kino zu sehen sind, legen diesen Gedanken
nahe. Aber bei genauerem Hinsehen nutzen auch sie den Blick auf Vergangenes
vor allem dazu, um Wege in die Zukunft aufzuzeigen.
Womit sie ideal in eine Reihe passen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat,
jungen deutschen (oder vielmehr: in den Strukturen des deutschen Film- und
Fördersystems arbeitenden) Filmemachern eine Bühne für ihre ersten oder
zweiten Filme zu bieten. Das geschieht in diesem Jahr nicht mehr in einem
der Multiplex-Säle am Potsdamer Platz, sondern im Kino International.
Vielleicht ist es ein Zeichen der Wertschätzung, die [1][der neue
Berlinale-Leiter Carlo Chatrian] dieser oft ein wenig stiefmütterlich
behandelten Sektion entgegenbringt.
Aus nur noch acht Filmen besteht dabei das Programm, was aber laut der
Sektions-Leiterin Linda Söffker nicht auf einen Mangel an zeigenswerten
Filmen zurückzuführen ist. Man wolle sich schlicht bemühen, einen
konzentrierten Blick auf je vier Spiel- und Dokumentarfilme eines
bemerkenswert starken Jahrgangs zu richten.
Stark ist er besonders im Bereich der Dokumentation, wo vor allem
Filmemacherinnen ungewöhnliche Projekte wagten. Sandra Kaudelka etwa, die
für ihren Film „Wagenknecht“ die Vorsitzende der Linkspartei zwei Jahre
lang begleitete. Dass am Ende dieser Drehzeit dann Sarah Wagenknechts
Rückzug aus der Spitzenpolitik stand, war zu Beginn wohl nicht zu erwarten
gewesen. Für eine Filmemacherin war es aus dramaturgischer Sicht ein
Glücksfall, der den Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik nur
umso prägnanter macht.
## Filmreife Familiengeschichte
Als Glücksfall muss man aus filmischer Sicht auch die Familiengeschichte
von Janna Ji Wonders betrachten. In ihrer epischen Dokumentation
„Walchensee Forever“ wird diese Geschichte nachgezeichnet, die 1920 begann
und mit Ende des Films noch keineswegs abgeschlossen ist. Wonders
konzentriert sich dabei auf die Frauen ihrer Familie, angefangen bei der
Urgroßmutter Apa, die zusammen mit ihrem Mann 1920 an den Walchensee zog.
Hier, in der malerischen Welt der bayerischen Voralpen, eröffnete die
Familie ein Ausflugscafé.
Es ist ein Ort, der die Familie zusammenhält – nicht immer freiwillig.
Schon Apas Tochter Norma hatte künstlerische Ambitionen, die sie spätestens
begraben musste, als ihre Töchter Frauke und Anna geboren wurden. Letztere
ist die Mutter der Regisseurin. Besonders Annas Interesse an Fotografie ist
die Basis für das reiche Material an Fotos und 8-mm-Filmen, die Janna Ji
Wonders zu einem Gesellschaftsporträt zusammenfügt.
Im Mittelpunkt steht dabei der Versuch der Frauen, aus den
patriarchalischen Strukturen auszubrechen und ein unabhängiges Leben zu
führen. Anna und Frauke gelang dies, zumindest phasenweise. Sie reisten
nach Mexiko und Indien. Frauke wurde Teil von Rainer Langhans’ Harem, kam
aber mit dem Freiheitsversprechen der 68er nicht zurecht und nahm sich das
Leben. Nun führt die nächste Generation die künstlerischen Ambitionen der
Frauen der Familie fort – in einem sehr persönlichen Film, der in dieser
Familiengeschichte das große Ganze findet und so von der deutschen Psyche
erzählt.
## Die deutsche Vergangenheit in Gestalt eines Wildschweins
Diese ist auch Thema des Spielfilmdebüts „Schlaf“ von Michael Venus, ein
Beitrag aus der Rubrik Genrekino. Die von Sandra Hüller gespielte Mutter
Marlene wurde zeit ihres Lebens von schweren Albträumen geplagt. In einem
verschlafenen deutschen Provinznest namens Stainbach (!) hofft sie
Antworten zu finden. Doch nachdem ihr im Schlaf die deutsche Vergangenheit
in Gestalt eines Wildschweins erschienen ist, fällt sie ins Koma. Auftritt
der jüngeren Generation: Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) betrachtet die
Traumata ihrer Mutter mit Befremden, ahnt aber, dass auch sie nicht frei
von ihnen ist.
Ganz den Mustern des Genres entsprechend stößt Mona auf dunkle Geheimnisse,
die ihre Ursachen nicht in persönlicher, sondern in
gesamtgesellschaftlicher Schuld haben. Um Vertriebene geht es, um das
deutsch-polnische Verhältnis, um die Bemühungen der Ewiggestrigen, die
deutsche Vergangenheit umzuschreiben.
Nicht nur die Deutschen tragen an ihren Bürden, auch die Russen. Besonders
der russische Mann hat es nicht einfach, wie Natalija Yefimkina in
„Garagenvolk“ zeigt. Auf der Halbinsel Kola im eisigen russischen Norden
spielt sich ein erheblicher Teil des Lebens – vor allem der Männer, aber
auch mancher Frauen – in Garagen ab, die in endlosen Reihen am Rand der
Städte liegen. In den allerwenigsten stehen Autos, stattdessen haben sich
die Bewohner Werkstätten oder Proberäume eingerichtet und gehen Hobbys von
illegalem Schnapsbrennen bis zu Fischverkauf nach. Bisweilen nimmt das
durchaus befremdliche Formen an: In Uniformen der Roten Armee wird sich an
die guten alten Zeiten erinnert.
Doch so desolat dieses Leben auf den ersten Blick auch scheinen mag, am
Ende sind die Garagen auch ein Ort der Freiheit in einem repressiven
System. So gilt am Ende für diesen wie für die meisten Filme der
diesjährigen Perspektive: So ausweglos die Lage auch scheinen mag, wirklich
hoffnungslos ist sie am Ende doch nie.
22 Feb 2020
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## AUTOREN
DIR Michael Meyns
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