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       # taz.de -- Berlinale eröffnet mit „My Salinger Year“: Herumlungern verboten
       
       > Die Berlinale eröffnet mit Philippe Falardeaus „My Salinger Year“
       > (Berlinale Special). Vor allem Sigourney Weaver macht darin eine gute
       > Figur.
       
   IMG Bild: Knorriges Holz: Margaret (Sigourney Weaver) und Joanna (Margaret Qualley)
       
       Es soll ja Menschen geben, die haben „The Catcher in the Rye“ nicht
       gelesen, [1][dieses Buch zum Noch-nicht-Erwachsen-Werden] von J. D.
       Salinger, zu Deutsch „Der Fänger im Roggen“.
       
       Joanna (Margaret Qualley) will Schriftstellerin werden. Ihr Studium in
       Berkeley schmeißt sie hin, um sich in New York zu versuchen. Zum
       Geldverdienen beginnt sie, als Assistentin bei einer Literaturagentin zu
       arbeiten. Die vertritt unter anderem Salinger. Im Vorstellungsgespräch
       fällt dann oft der Name Jerry. Unter keinen Umständen Jerrys Adresse
       weitergeben, und wenn er anrufe, sofort der Chefin Bescheid sagen, sofern
       sie gerade nicht da ist.
       
       Joanna nickt zu allem. Als sie nach erfolgreicher Bewerbung die Agentur
       verlässt, fällt ihr Blick auf mehrere Buchtitel von J. D. Salinger: „Oh,
       der Jerry!“, sagt sie zu sich. Sie hat bisher keines seiner Bücher gelesen.
       
       „My Salinger Year“, [2][der Eröffnungsfilm der Berlinale], ist eine
       Literaturverfilmung des kanadischen Regisseurs Philippe Falardeau nach dem
       gleichnamigen autobiografischen Roman von Joanna Rakoff. Es ist eine dieser
       Geschichten von großen Erwartungen, dem Bedürfnis, ein writer in New York
       zu sein, mit allen Klischeevorstellungen, die sich damit verbinden:
       tagsüber in Boheme-Cafés sitzen, nachts in billigen Apartments hausen und
       einen Roman schreiben.
       
       Demgegenüber steht die Realität des ebenfalls leicht stereotypen New Yorker
       Berufsalltags: Effiziente Professionalität herrscht bei der
       Literaturagentin Margaret, und die ist so geradeheraus und knapp, wie ein
       Boss es nur sein kann. Joanna hält es trotz einiger Anfangsschwächen und
       kleinerer Fehler aus.
       
       ## Unterkühlt und barsch
       
       Margaret wird gespielt von Sigourney Weaver, und das ist einer der
       Hauptgründe, diesen Film anzusehen. So unterkühlt und barsch, wie sie
       Joanna herbeizitiert und wieder aus dem Büro herauskomplimentiert, dabei
       zugleich durchblicken lässt, dass sie menschlich zu mehr in der Lage ist,
       als Befehle zu erteilen, möchte man sie fast selbst zur Chefin haben.
       
       „My Salinger Year“ ist ein gediegener Film, zu dessen Reizen neben dem
       Auftritt Sigourney Weavers auch das Zusammentreffen zweier Arten von
       steifer Körperlichkeit gehört: das leicht Eingekapselte von Weavers
       Margaret und die juvenile, postpubertäre Statik in der Körpersprache von
       Margaret Qualleys Joanna. Auch die Momente, in denen sich Joanna, die
       Salingers Fanpost zu beantworten hat, sich die Verfasser der Briefe vor
       ihrem geistigen Auge vorstellt und mit ihnen teils tagtraumartige Dialoge
       führt, haben ihren Witz.
       
       Falardeau offenbart zugleich eine kommunikationstechnologische Nostalgie,
       wenn er Margaret im Jahr 1995 als Befürworterin von Schreibmaschinen und
       Diktiergeräten präsentiert, die in ihrem Büro nach langem Zögern einen
       einzigen Computer duldet. Der darf lediglich für Recherchen im Internet
       genutzt werden, und über seinem Bildschirm klebt demonstrativ das Verbot
       „No Loitering“ – Nicht herumlungern.
       
       Das ist lustig, aber ganz im Stil des restlichen Films zu lieb und rund
       gemacht. Wie auch Margarets Büro, dessen Inneneinrichtung aus der ersten
       Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stammen scheint, wirkt er auf nicht allzu
       anregende Weise aus der Zeit gefallen.
       
       21 Feb 2020
       
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