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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Zwei im guten Chaos
       
       > Eigentlich wollte Kris Killmann allein leben, dann landete er bei Ute
       > Lehmann. Den 20-Jährigen und die 51-Jährige verbindet mehr, als sie
       > dachten.
       
   IMG Bild: „Meine Mutter würde es hier wahrscheinlich schrecklich finden“, sagt Kris
       
       Manchmal findet zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. So
       ist es auch bei Ute Lehmann und Kris Killmann. Zu Besuch in ihrer WG in
       Berlin.
       
       Draußen: Auf dem Gehweg liegen bunte Plätzchenausstecher, wenige Meter
       weiter eine zerschellte Toilettenschüssel. Berlin, Kreuzberg, Altbau. Ein
       Haus, in dem Nachbarn Schlüssel tauschen, Pakete bringen, Katzen hüten. Man
       kennt sich. Hier wohnt Ute, dritter Stock, linke Tür. Wer zu der
       51-Jährigen will, drückt die Klingel mit den Diddl-Mäusen drauf. Im Oktober
       vergangenen Jahres steht Kris vor dieser Tür und hofft, dass er bleiben
       kann. Denn Ute hat, was ihm fehlt. Eine Wohnung.
       
       Drinnen: Vier Monate später. Ute steht im Gang und plaudert mit ihrer
       Nachbarin von Tür zu Tür, dann taucht sie in den schummrigen Flur ihrer
       Wohnung. Kerzen flackern und werfen warmes Licht auf die Wände, der
       Dielenboden knarzt unter den Füßen, in der Ecke steht ein Podest,
       vollbepackt mit Büchern und Klimbim von Reisen um die Welt.
       
       Kippen: „Brauch erst mal eine“, sagt Ute. Sie kippt das kleine Fenster in
       der Küche und entzündet eine Zigarette. „Kann ich auch eine haben?“, fragt
       Kris. Kann er. Er raucht auf dem Stuhl am Küchentisch, sie an die Spüle
       gelehnt. Ute trägt einen Norwegerpulli, sie steht etwas nach vorne gebeugt,
       wache Augen sehen durch eine Brille mit dickem schwarzen Rand. „Kris
       erinnert mich an mich selbst“, sagt Ute. Vielleicht endete seine
       Wohnungssuche auch deshalb hier.
       
       Kampf: Berlin und Wohnung finden – passt nicht. Das erfährt Kris, als er im
       Herbst ein Zimmer sucht. Einige WGs sagen ab, bei anderen hofft er, dass
       sie ihn nicht haben wollen. Einmal hat er sogar schon die Zusage für ein
       eigenes Apartment, doch dann kommt ihm ein Wasserschaden zuvor. Er muss
       etwas anderes finden. Kris will Biologie studieren. Das Semester beginnt
       schon in sechs Tagen und er weiß nicht, wo er bleiben kann. Er entdeckt
       Utes Anzeige im Internet. Noch am selben Tag führt sie ihn durch ihre
       Wohnung.
       
       Kleinstadt: Nach der Schule wollte Kris raus aus Meckenheim. Er sagt, in
       der Kleinstadt in der Nähe von Köln falle jeder auf, der anders sei.
       Schwarz lackierte Fingernägel, verwuschelte Haare, dazu Piercings. Kris
       lacht viel, wenn er spricht. Zu Hause habe er sich von seinen Eltern unter
       Druck gesetzt gefühlt, sich um seine Zukunft kümmern zu müssen. „Ich habe
       mich gefreut, wenn ich heimkam und keiner war da.“ Abhauen, alleine wohnen,
       Freiheit. So hatte er sich das zumindest vorgestellt.
       
       Kontaktaufnahme: Im Wohnzimmer steht eine Schaufensterpuppe, die aussieht,
       als schaue sie aus dem Fenster. In der Küche droht ein Regal die sich darin
       stapelnden Teedosen zu verlieren, sobald man es berührt. Und im Bad hängt
       ein Poster mit Mustern für Intimfrisuren. „Meine Mutter würde es hier
       wahrscheinlich schrecklich finden“, sagt Kris und lacht, während er von der
       Anfangszeit in dieser speziellen WG berichtet. Er kommt bei Ute unter. Aber
       es ist, als würden sie in zwei Welten leben.
       
       Kehrmaschinen: Kris wohnt noch nicht lange bei Ute, da begegnet sie ihm auf
       der Straße. Es ist Nacht, er hat die Kapuze über den Kopf gezogen. Weil er
       sie nicht sieht und sie ihn nicht aus seinen Gedanken reißen will, gehen
       sie stumm aneinander vorbei. Die beiden leben zusammen und trotzdem sehen
       sie sich kaum, denn wenn Kris vom Feiern kommt, geht Ute zur Arbeit. Um
       fünf Uhr morgens sitzt sie auf Kehrmaschinen. Streut Granulat, damit die
       Menschen nicht fallen, räumt auf, was sie in den Nächten Berlins fallen
       ließen. Seit fünf Jahren arbeitet sie bei der Straßenreinigung. „Das hat
       für mich etwas Meditatives“, sagt sie. Wenn sie spricht, tanzt das Piercing
       unter ihrem Mund.
       
       Kinder: Mit 18 begann Ute eine Ausbildung zur Erzieherin. Eigentlich ist
       ihr die Bezeichnung zu kalt. „Lebens-Lern-Hilfe“ nennt sie es lieber, 22
       Jahre lang betreut sie Kinder und Jugendliche, meist in der Grundschule. Es
       habe sie schockiert, wie einsam manche Kinder seien, wie wenig
       Aufmerksamkeit ihre Eltern ihnen schenkten. „Manche Kinder kennen das gar
       nicht, wenn man sie fragt: Wie geht es dir?“ Ute wollte vor allem für sie
       da sein. Kinder, die von anderen abgeschrieben wurden, erinnerten sie an
       sich selbst.
       
       Krise: Doch der Job ist hart, die Bezahlung schlecht, die Wertschätzung
       erlebt sie als gering. „Freunde haben mir irgendwann gesagt, Ute, du lachst
       gar nicht mehr.“ Sie stand kurz vor dem Burn-out. Einmal habe ihr ein
       Schüler gedroht, sein Bruder werde sie ermorden. Es sind Momente wie diese,
       die dazu führen, dass Ute erst ihre Haltung und dann ihren Job verliert.
       Wenn sie davon spricht, röten sich ihre Augen. „Später hat der Junge
       gesagt, Ute, ich liebe dich.“ Aber sie geht nicht zurück.
       
       Krimskrams: Plötzlich bläst der Wind die kleine Tanne im Blumentopf vor dem
       Küchenfenster um, sie droht in den Innenhof zu fallen. Ute springt auf,
       schaufelt Krimskrams vor dem Fenster weg, damit sie es einen Spalt weit
       öffnen kann. „Nervig, dass hier so viel rumsteht“, sagt sie. Kris sagt, Ute
       sei chaotisch, „gut chaotisch“. Im Studium lernt er, dass Chaos der
       wahrscheinlichste Zustand im Universum ist. Ordnung vergeht und er versucht
       gar nicht erst, sie zu halten. Seine Schwester träume davon, Medizin zu
       studieren, und er bewundere ihren Ehrgeiz, aber er selbst strebe gerade
       nach nichts Vergleichbarem. „Es ist schön, kein Ziel zu haben“, sagt Kris.
       Er geht feiern, sucht sich, findet Freunde. „Mein Ziel ist nächste Woche.“
       
       Körperverrenkungen: Im Wohnzimmer stehen ein Mischpult und eine Stange, die
       bis zur Decke reicht. „Da haben sich schon viele hochgezogen“, sagt Ute.
       Seit 20 Jahren wohnt sie hier. Damals wollte sie mit ihrer Partnerin
       zusammenziehen und ein Zuhause gründen, sie hatte alles geplant. Doch es
       kommt anders. Ihre Partnerin trennt sich von ihr, Ute bleibt ein leeres
       Zimmer. Aber nicht lang. Ein Freund zieht ein, gemeinsam feiern sie
       „legendäre“ Partys im Wohnzimmer. „Meine Feierzeit ist langsam vorbei“,
       sagt sie und erzählt im nächsten Moment vom Stromboli. Ein aktiver Vulkan
       auf den Liparischen Inseln, an dessen Fuß sie im vergangenen Jahr den
       japanischen Butoh, den „Tanz der Finsternis“, tanzt. Bis heute bekomme sie
       Gänsehaut, wenn sie daran zurückdenke, sagt Ute. Kris hat sich ihr
       zugewandt, hört ihr gebannt zu, wie ein Kind einer Märchenerzählerin.
       
       Kohle: Sie fühle sich reich, sagt Ute. Den Job in der Straßenreinigung habe
       sie lieben gelernt, sie verdiene sogar mehr als vorher. Aber sie mag nicht
       alles daran. Ute räumt auf, auch unter Brücken. Eines Tages lösten sie und
       ihr Team das Lager einiger Obdachloser auf. Die Bewohner waren nicht da,
       sie mussten vieles wegschmeißen, Schlafsäcke, Isomatten, Persönliches. Ute
       ist sich sicher, man habe die Obdachlosen gewarnt, trotzdem: „Da habe ich
       gesagt, das mache ich nicht mehr mit.“ Seither arbeitet sie nur noch bei
       anderen Einsätzen. Seit drei Jahren bewirbt sie sich für ein Projekt, bei
       dem die Auserwählten ein Jahr lang [1][ein bedingungsloses Grundeinkommen
       bekommen sollen]. Würde sie auserwählt, sagt sie, würde sie weiter
       arbeiten, aber sie hätte dann auch Zeit, sich fortzubilden. Eine Freundin
       sage ihr immer wieder, sie könnte eine gute Suchtberaterin für Jugendliche
       sein.
       
       Kümmern: Im Dezember hätte Kris in seine eigene Wohnung ziehen können.
       Mittlerweile ist es Januar. Und Kris ist immer noch da, an Utes
       Küchentisch. Hier tauschten sie, als er bei Ute unterkam, erst nur knappe
       Worte aus. Bald aber auch Gedanken, dann Geschichten. Kris bleibt bei Ute.
       Auf dem Topf am Herd hat Ute, wie schon oft, einen Zettel hinterlassen.
       „Kris, falls du Lust auf Kartoffeln hast, nimm sie bitte.“ Ute hat schon
       vor Kris zwei Studenten bei sich beherbergt, aber mit ihm sei es anders.
       „Ich muss aufpassen, dass ich nicht noch mütterliche Gefühle entwickle“,
       sagt sie. Die beiden rauchen. Sie tippen die Asche in ein Glas auf dem
       Tisch. „Ist dir das aufgefallen“, sagt Kris, „ich spreche sehr viel mit mir
       selbst.“ Ute raucht. „Mach ich ja auch“, sagt sie.
       
       1 Mar 2020
       
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       ## AUTOREN
       
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