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       # taz.de -- Evolutionsbiologe über Artenvielfalt: „Muten der Erde immer mehr zu“
       
       > Matthias Glaubrecht würde das geplante Hamburger Naturkundemuseum am
       > liebsten in prominenter Lage in der Nähe der Elphi bauen.
       
   IMG Bild: Wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Artensterben: Matthias Glaubrecht
       
       taz: Herr Glaubrecht, warum braucht Hamburg ein neues Naturkundemuseum? 
       
       Matthias Glaubrecht: Wir müssen uns sehr anstrengen, um in einer
       lebenswerten Umgebung zu existieren, in der auch unsere Kinder Nashörner,
       Elefanten oder sonstige Tiere in freier Wildbahn sehen können. Präparierte
       Walrösser und Eisbären dienen uns als Transportmittel, um Menschen zu
       erreichen. Hamburg hat sein Naturkundemuseum bereits im Zweiten Weltkrieg
       verloren. Mit meiner Professur für Biodiversität habe ich nun die Chance,
       den Aufbau für das neue Naturkundemuseum „Evolutioneum“ voranzutreiben.
       
       Gibt es den politischen Willen dazu? 
       
       Wir haben ihn allmählich hergestellt. 2008 hat die Wissenschaftsbehörde
       bereits ein Gutachten beim Wissenschaftsrat in Auftrag gegeben, um
       herauszufinden, was aus der großen naturkundlichen Sammlung der Stadt von
       über zehn Millionen Objekten werden kann. Konkrete Pläne gab es nicht.
       Seitdem die Grünen die Wissenschaftsbehörde führen, kam es zu einem
       Paradigmenwechsel; heute bekennt sich die Stadt Hamburg zu den Plänen des
       neuen Naturkundemuseums.
       
       Sind Ausstellungen mit ausgestopften Tieren nicht anachronistisch? 
       
       Im [1][Zentrum für Naturkunde an der Uni Hamburg] steht die Eisbär-Dame
       Smila. Sie kommt aus dem Berliner Zoo. Vor der Wende hat man Smila nach
       Hamburg gebracht. Wir stellen sie mit einem doppelten Hintergedanken aus:
       Wir zeigen einen Eisbären, weil wir im Sinne intellektueller Verstörung
       Besucher*innen erst mal hineinlocken wollen. Kinder machen schon am Eingang
       große Augen, wenn sie einen ausgestopften Eisbären sehen.
       
       Und dann informieren Sie über deren schwindenden Lebensraum? 
       
       Ja, mit einer Medienstation. Eisbären sind ja gar nicht vom Aussterben
       bedroht, es gibt noch etwa 25.000 von ihnen. Die Population ist mit einer
       Ausnahme nicht geschrumpft, trotz der Klimakrise. Wir bedrohen sie aber mit
       einer kolossalen Lebensraumveränderung. Smila transportiert das Thema
       globale Erwärmung sehr gut. Wir verstehen uns mit diesem Angebot als ein
       Fenster der Wissenschaft für die Bevölkerung.
       
       Wenn es dieses Zentrum schon gibt, warum dann noch das Naturkundemuseum? 
       
       Ich denke, dass wir mit einem richtigen Hamburger Naturkundemuseum als
       zweitgrößte Stadt in Deutschland auch eine Botschaft vermitteln können:
       [2][Das Thema Biodiversität] wird immer wichtiger.
       
       Wie spruchreif sind die Pläne für das Museum und seine Finanzierung? 
       
       Hamburg hat sich bereits verpflichtet, einen Museumsneubau zu errichten,
       und wird diesen auch alleine finanzieren. Unsere neue Forschungseinrichtung
       soll dagegen als Leibniz-Institut für die Analyse des Biodiversitätswandels
       (LIB) in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenommen werden, bei der sich Bund und
       Länder die Betriebskosten teilen. Die Bund-Länder-Kommission berät derzeit
       darüber, wie die Finanzierung des LIB vonstattengehen soll, und über die
       Aufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft. Große Naturkundemuseen sind nationale
       Aufgaben. Wenn alles klappt, werden wir ab Januar 2021 innerhalb der
       Leibniz-Gemeinschaft mit dem Bonner Zoologischen Museum zum LIB
       fusionieren.
       
       Wo soll das Evolutioneum hin? 
       
       Es soll nicht irgendwo am Stadtrand in Flottbek oder Bahrenfeld versteckt
       sein, sondern sehr zentral stehen. Es muss da hin, wo Touristen hinwollen
       und leicht hinfinden. In der Nähe der Elbphilharmonie gibt es eine riesige
       Freifläche, den Baakenhöft – die könnte der Senat an irgendeinen Investor
       veräußern – oder wir bauen dort eine Kultureinrichtung für das zentrale
       Zukunftsthema des 21. Jahrhunderts.
       
       Ist das Artensterben in seiner Dringlichkeit in der Gesellschaft
       angekommen? 
       
       Nein. Wir Menschen sind evolutionsbiologisch so gestrickt, dass uns das
       Heute wichtiger erscheint als das, was noch in Zukunft kommen wird.
       
       Was sind denn Ursachen für das Artensterben? 
       
       Versiegelung, Landwirtschaft, Rodung: Wir muten der Erde eine immer größer
       werdende Anzahl von Menschen zu. Bei vielen ist mittlerweile angekommen,
       dass wir eine Klimakrise haben, aber das eigentlich viel größere Problem,
       nämlich das Artensterben, endet für sie beim Tiger oder anderen großen
       Tieren.
       
       Ist das Artensterben schlimmer als der Klimawandel? 
       
       Es geht nicht darum, Klimawandel gegen Artensterben auszuspielen. Aber wenn
       wir in unmittelbarer Zukunft mit dem Klimawandel alles richtig machen
       würden, würde uns das bei unserem [3][Problem des Artensterbens] nicht
       weiterhelfen. Ich bin alles andere als ein sogenannter Klimaleugner, halte
       das aber nicht für das einzig große Problem. Auf das Artensterben gibt es
       keine technologische Antwort. Wir Menschen müssen unser Verhalten ändern.
       
       Und das soll das Evolutioneum begreiflich machen? 
       
       Ja, es soll auf drei Säulen stehen: Sammlung, Forschung und Ausstellung. Es
       soll ein Museum des 21. Jahrhunderts werden. Wir wollen als
       Alleinstellungsmerkmal die Rolle des Menschen als Evolutionsfaktor
       behandeln, die Brisanz des Artensterbens und die ungewisse Zukunft der
       Menschen. Ein Museum des Anthropozäns so gesehen.
       
       13 Mar 2020
       
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