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       # taz.de -- Gedenkstätte am Bullenhuser Damm: Das Früher ist um uns
       
       > Bald wird das Kriegsende 75 Jahre her sein. In Hamburg gibt es einen Ort,
       > an dem die Erinnerung noch nicht institutionalisiert ist.
       
   IMG Bild: Gedenksteine im Rosengarten der Gedenkstätte Bullenhuser Damm
       
       Ich fahre mit dem Rad durch Hamburg-Rothenburgsort. Ein Samstagnachmittag.
       Es riecht nach Frühling, doch es ist noch kalt. Plötzlich sehe ich das
       Schild: „Gedenkstätte Bullenhuser Damm“. Ein Innehalten. Ich lenke mein Rad
       um. Ich weiß gar nicht genau, warum.
       
       Es ist, als würde ich getragen werden. Ich muss da hin. Es geht durch ein
       Industriegebiet, über eine Kreuzung. Wieder das Schild. Gedenkstätte
       Bullenhuser Damm. Was war dort? Etwas zieht mich an. Ich wollte dort schon
       immer hin. Da liegt Geschichte, die ich kennen möchte, wenn ich in dieser
       Stadt lebe.
       
       Ich biege von der Hauptstraße ab, fahre an Lastwagen-Plätzen vorbei. Eine
       unwirtliche Gegend. Mir begegnen keine Menschen. Ich spüre ein Alleinsein.
       Eine Unterbrechung der Zeit, als würde ein Messer in meinen Tag stoßen und
       darin ein Zeitloch aushöhlen. Dann halte ich. Hier muss es sein. Ein altes,
       langgestrecktes, hohes Gebäude. Alleinstehend, aus dunklem Stein. Am
       Eingang ein Schild. Der Text ist ein Schock.
       
       20 Kinder, ihre Pfleger und 24 sowjetische Häftlinge wurden in dieser
       Schule im Keller erhängt. In der Nacht des 20. April 1945. 18 Tage vor
       Kriegsende. Die Kinder sind zuvor für medizinische Versuche im
       Konzentrationslager Neuengamme missbraucht worden. Ein Arzt hat die Kinder
       absichtlich mit Tuberkulose infiziert. Tuberkulose ist eine bakterielle
       Infektionskrankheit, die vor allem die Lunge befällt.
       
       Das Schild verweist auf den Eingang zur Gedenkstätte hinter dem Haus. Dort
       ist ein Schulhof, die Tür zur Gedenkstätte ist geschlossen. Sie ist
       sonntags geöffnet. Doch auch der Hof reicht, um mich zu erfassen. In einer
       Pfütze auf dem Boden spiegelt sich das Gebäude. Daneben auf der Erde sind
       Kinderzeichnungen, ein Schmetterling, ein Himmel-und Hölle-Hüpfspiel.
       Hinter mir stehen Spielgeräte. Ich kann nicht zuordnen, wie das Gebäude
       noch genutzt wird.
       
       Ich sehe auf die Fenster, die in einen Souterrain führen. Ich stelle mir
       die Keller vor, in denen die Täter und die Kinder waren. Die Kinder kamen
       aus Polen, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Tschechien. Sie waren
       zwischen fünf und zwölf Jahre alt.
       
       Später lese ich mehr über die Kinder auf der Seite der Gedenkstätte. Dort
       gibt es Fotos von ihnen, bevor sie in das Lager kamen. Die Brüder Alexander
       und Eduard Hornemann waren auch unter den Kindern. Sie wurden von ihren
       Eltern Lexje und Edo gerufen. Ein anderes Kind war Roman Witoński. Ein Bild
       zeigt ihn mit seiner Mutter im Wald. Sie umarmt ihn innig.
       
       Als ich im Hof stehe, denke ich an die Theorie der „Hauntology“, dass
       unsere Gegenwart durch Ideen der Vergangenheit geprägt wird. Etwas
       Abwesendes ist anwesend, das wir jetzt spüren. Bald wird das Kriegsende 75
       Jahre her gewesen sein. Futur II: Etwas wird gewesen sein. Im Futur II
       drückt sich aus, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden sind.
       Selbst wenn manche Stimmen meinen, dass es doch mal gut sei mit dem
       Erinnern. Dass man mit diesem Teil der deutschen Geschichte abschließen
       müsse. Nein. Es wird gewesen sein.
       
       Das Früher ist um uns. Es sucht uns auf, so wie mich etwas an diesen Ort
       gezogen hat. Hier an der Gedenkstätte am Bullenhuser Damm wird das
       besonders spürbar. Die Verbrechen der Nationalsozialisten geschahen hier
       nicht ausgelagert, sondern in einer Schule, einem sonst zivilisierten Ort,
       in dem Kinder wachsen sollen. Hier stand noch kein Bundespräsident und
       hielt eine Rede. Hier fand kein Tourismus statt. Die Erinnerung ist noch
       nicht institutionalisiert. Vielleicht erfasst mich dieser Ort auch deshalb
       so stark.
       
       Am 20. 4. 2020 wird es 75 Jahre her sein, dass ein Arzt Kindern absichtlich
       eine schwere Krankheit spritzte, dass sie in diesem Schulkeller erhängt
       wurden. Ich drehe mich um. Hinter mir ist ein Rosengarten angelegt. Dort
       kann man eine Rose pflanzen als Gedenken. „Eine Rose ist eine Rose ist eine
       Rose“, schrieb Gertrude Stein. Ich schiebe mein Rad vom Hof. Ich verlasse
       den Ort. Der Ort bleibt. Er bleibt und bleibt und bleibt.
       
       7 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Zwischen Menschen
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