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       # taz.de -- Abwehr von Geflüchteten: Sie sind keine Naturkatastrophe
       
       > Es braucht keine eigene Fluchterfahrung, um die Unmenschlichkeit der
       > EU-Politik zu erkennen. Aber sie wird noch deutlicher spürbar.
       
   IMG Bild: Geflüchtete, die sich bei der Ankunft auf der Insel Lesbos, aufzuwärmen versucht
       
       Ich bin es leid, über meine Fluchtgeschichte zu berichten, in der Hoffnung,
       Empathie für flüchtenden Menschen zu erzeugen. Empathie bei jenen, die
       meinen, dass wir nicht alle retten können, [1][die ernsthaft in Erwägung
       ziehen, Menschen im Mittelmeer ertrinken oder vor der Grenze sterben zu
       lassen].
       
       Menschen, die sie nur noch als Flüchtlingsströme, Flüchtlingswellen,
       Flüchtlingsanstürme sehen. Wie Naturkatastrophen, um sie zu entmenschlichen
       und von uns fernzuhalten. In Österreich wurde ein „Flüchtlingsspiel“
       verboten, in dem ein Verein in einer Wiener Schule die Behördengänge, die
       geflüchtete Menschen in Österreich durchmachen, mit den Jugendlichen
       nachgespielt hat, mit der Begründung, dass sei zu hart für die Kinder.
       
       Wir wollen keine „Flüchtlingsspiele“ an „unseren“ Schulen, weil wir wollen,
       dass dieses Leid weit wegbleibt. Wir finden, dass Behördengänge
       nachzuspielen zu hart für „unsere“ Kinder ist, [2][aber dass afghanische,
       sudanesische, syrische Kinder ertrinken, verhungern, erfrieren, nehmen wir
       hin]. Wir sagen „Flüchtlingskrise“ und tun so, als wären wir es, die diese
       Krise hätten und nicht Menschen, deren Heimat zerstört, deren Familien
       ermordet, deren Leben keinen Wert mehr zu haben scheint.
       
       Europa hätte die Mittel, diesen Menschen zu helfen, [3][stattdessen feuert
       man mit Tränengas und Wasserwerfern auf Schutz suchende Menschen]. Dann
       gehen die Bilder von diesen Menschen, von denen einige darauf aggressiv
       reagieren, weil sie sich verteidigen müssen, es tut sonst ja keiner, um die
       Welt, und wir bekommen Angst vor diesen Flüchtlingen, die vor unseren
       Grenzen stehen. Die Politik setzt auf diese Bilder. Geflüchtete werden als
       Druckmittel zwischen der Türkei und der EU eingesetzt, und wir nehmen hin,
       [4][wenn von „Grenzen schützen“ und „Routen schließen“ die Rede ist], auch
       wenn das bedeutet, die Schutz suchenden Menschen in den sicheren Tod zu
       schicken.
       
       Ich bin es leid, von meiner eigenen Fluchtgeschichte zu berichten, in der
       Hoffnung, Empathie zu erzeugen, denn es geht hier nicht um mich. Auch ich
       fühle mich ohnmächtig. Mehr als zu spenden und die Politik an ihre
       menschenrechtlichen Verpflichtungen zu erinnern kann ich ja auch nicht.
       Meine Mutter ist mit mir 1992 vor dem Bosnienkrieg geflüchtet. Die Flucht
       war dramatisch, aber nicht ansatzweise so grausam wie die der Menschen, die
       sich jetzt in Griechenland befinden. Ich wäre wahrscheinlich trotzdem tot,
       hätten sich die „Grenzen schließen“-Rufer, die „Wir können nicht alle
       aufnehmen“-Sager durchgesetzt. Dass die, die das heute sagen, meinen Tod in
       Kauf genommen hätten, macht auch etwas mit mir, obwohl es nicht um mich
       geht.
       
       In ein paar Jahrzehnten wird sich die ganze Welt dann fragen, wie das alles
       möglich war, wie wir alle bloß zuschauen konnten, während Menschen vor
       unserer Haustür ertrunken, erfroren, verhungert und erschossen wurden.
       
       9 Mar 2020
       
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