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       # taz.de -- Die Wahrheit: Baden im Schlagloch
       
       > Die zahlreichen Krater in Irlands schmalen und kurvenreichen Straßen
       > laden zum experimentellen Autofahren ein.
       
   IMG Bild: Wer im Alltag stolpert, erlebt immer etwas mehr Freiheit
       
       So kennt man es in Irland: Man läuft nach einem fröhlichen Abend im Pub
       spätabends nach Hause und fällt in ein Schlagloch. Während man benommen am
       Boden liegt, taucht ein kleines blondes Mädchen im Superheldinnen-Kostüm
       mit rotem Umhang auf und füllt das Schlagloch mit Blumen. Nein? So
       geschieht es aber in dem Musikvideo „Potholes“ von den Shruggs, einer
       Zwei-Mann-Band aus dem südirischen Cork.
       
       Bei uns hat sich die Kleine nicht blicken lassen, als wir neulich auf dem
       Weg zu einer Geburtstagsfeier auf einer Halbinsel waren. Nach gut drei
       Wochen fast ununterbrochener Regenfälle war die Straße kaum noch zu
       erkennen. Überall auf den Feldern und Wegen sind spontane Seen entstanden.
       Als wir durch eine dieser „Pfützen“ fuhren, gab es einen lauten Schlag: In
       den Fluten hatte sich ein riesiges Schlagloch versteckt.
       
       Wir hatten Glück, unser robuster 19 Jahre alter Kleinwagen ist an irische
       Straßen gewöhnt. Andere kamen nicht so glimpflich davon. In einer kurzen
       Regenpause hatte das Straßenbauamt einen Kleinlaster mit Sand geschickt,
       mit dem die Löcher aufgefüllt werden sollten. Ein besonders stattliches
       Exemplar hatten die Arbeiter aber übersehen. Unser Nachbar fuhr ihnen
       hinterher und wies sie darauf hin. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“,
       erklärte der Fahrer und fuhr weiter.
       
       Der Nachbar holte einen Warnpömpel aus seinem Schuppen. Als er nach einer
       Viertelstunde zurückkam, waren bereits acht Autos ins Loch gefahren und mit
       zerborstenen Reifen liegen geblieben. Auf Schadensersatz können sie nicht
       hoffen. Den gibt es nur bei „Schlechterfüllung einer Verpflichtung“, nicht
       aber bei „Nichterfüllung“. Mit anderen Worten: Ignoriert das Straßenbauamt
       ein Schlagloch, ist es nicht haftbar. Repariert es das Loch hingegen
       unzureichend, muss es zahlen.
       
       In Nordirland ist die Sachlage anders. Dort wurden in den vergangenen drei
       Jahren 1,7 Millionen Pfund an Schadensersatz ausbezahlt. Jemand hat die
       Schlaglöcher gezählt, es sind 102.521 Stück. Zusammen sind sie 1.338 Meter
       tief, fast achtmal so tief wie der Ärmelkanal. Wie hat man das bloß
       ausgerechnet? Ein Liam Keane aus Cork hat die Messung bei einem mit Wasser
       gefüllten Schlagloch selbst vorgenommen. Er zog sich eine Badehose an und
       sprang hinein. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust.
       
       Die irische Regierung will aus dem Notstand eine Tugend machen: Sie hat die
       Gesetze gelockert, sodass fahrerlose Autos auf irischen Straßen getestet
       werden dürfen. Die Industrie findet in Irland Idealbedingungen vor. Ein
       fahrerloses Auto auf einem Highway in Kalifornien ist eine Sache – dasselbe
       Auto auf einer schmalen, kurvenreichen Landstraße ohne Fahrbahnmarkierung
       und übersät mit Schlaglöchern eine andere.
       
       Solange der miserable Zustand der Straßen Geld von der Industrie einbringt,
       können wir lange auf die Reparatur warten.
       
       9 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
       ## TAGS
       
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