URI: 
       # taz.de -- Zoran Terzićs Buch „Idiocracy“: Der Sinn des Geschehens
       
       > Überall sehen wir Idioten. Aber ist jeder Idiot wirklich ein Idiot?
       > Einige Überlegungen zum Seinszustand der Gegenwart.
       
   IMG Bild: Ist das noch Idiotie? Oder etwas ganz Anderes? Kim Jong Un als Aschenbrödel
       
       Vor ein paar Jahren veröffentlichte [1][Bernie Sanders auf Twitter] einen
       Satz, der bis heute kursiert – gedruckt auf zahlreichen T-Shirts: „Donald
       Trump is an idiot.“ Der Politiker der Demokraten, der derzeit um die
       Kandidatur für die US-Präsidentschaftswahl kämpft, bezog sich dabei auf das
       notorische Leugnen des Klimawandels. Doch selbst allgemeiner gefasst würden
       wohl viele Menschen zustimmen.
       
       Aber was ist das überhaupt, ein Idiot? Es gibt verschiedene Arten, den
       Begriff zu verwenden. Eine bezieht sich auf Biologie. So wäre der Idiot auf
       der IQ-Skala ganz unten angesiedelt. Man erinnere sich nur an die Debatte,
       ob Trumps IQ – wie ein Dokument aus der Highschool nahelegt – tatsächlich
       bei 73 liege. Doch was würde das aussagen? Die üblichen Tests
       quantifizieren nur ausgewählte Fähigkeiten wie formalisierte Logik. Würde
       man das Ergebnis eines solchen Tests für den Ausschluss von öffentlichen
       Ämtern benutzen wollen?
       
       Wohl kaum. Doch begegnen wir einem solchen Denken häufiger. Der Film
       „Idiocracy“ zeigt die [2][Unterklasse] – ein bösartiges Vorurteil von
       Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung – als sich geradezu epidemisch
       vermehrend, während die neurotischen Akademiker an der Fortpflanzung
       scheitern. Allein dadurch ist die Welt in der Zukunft idiotisch geworden –
       durch Vererbung.
       
       Doch selbst die positivistische Psychologie wertet den Einfluss der Umwelt
       höher und kann in Studien zeigen, dass Armut zum temporären Absinken des IQ
       führt. Weil unter der Sorge ums bloße Überleben die Fähigkeit zu denken
       leidet.
       
       ## Politische Abwege
       
       Idiotie mit Biologie oder Genetik zu verbinden führt auf (politische)
       Abwege. Einen anderen Weg schlägt Zoran Terzić in seinem Buch „Idiocracy.
       Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten“ vor. Der Künstler und
       Kulturwissenschaftler hat ein Werk von geradezu lexikalischer Qualität
       geschaffen, strukturiert durch Schlagworte, die nach und nach die Facetten
       des Idiotischen beleuchten. Für die Analyse wird ein anderes Register
       benutzt: das Symbolische. Es ist ein Gang durch die Kulturgeschichte – von
       Philosophie über Literatur und Film bis Psychoanalyse.
       
       Das Idiotische bezeichnet kein unveränderbares Sein, sondern ein Verhältnis
       zur Welt oder ein Denk- und Handlungsmuster. So bezieht sich Terzić auf den
       antiken Philosophen Platon. Der bezeichnete mit Idioten im Wortsinne – von
       idios, also „eigen“ – Privatmenschen, die sich nicht an den öffentlichen
       Versammlungen und der Politik beteiligten. Mit Intelligenz hat das nichts
       zu tun.
       
       In dieser Tradition argumentierte auch Karl Marx, der den Begriff des
       Fachidioten prägte. Kenntnisse zu haben schützt vor Blindheit nicht –
       schlimmer gar, sie können die Blindheit überhaupt erst hervorbringen oder
       verstärken. Wenn Marx vom „Idiotismus der Bürgerwelt“ spricht, dann meint
       er die Blindheit gegenüber den Folgen der eigenen Produktionsweise. Womit
       man beim Klimawandel wäre. Aber auch bei Monopolbildung und Krise. Ein Ding
       kann seine eigene Ursache zerstören, wie Marx schreibt, und das ist das
       Idiotische.
       
       ## Fundamental fremd
       
       Terzić macht noch auf einen anderen Typus des Idioten aufmerksam, wie wir
       ihn von Dostojewski, aus „Der brave Soldat Schwejk“ und auch aus „Forrest
       Gump“ kennen: einen gutmütigen Beobachter der Welt, der ihren Gesetzen
       fundamental fremd ist. Dieser Idiot, verwandt mit dem Narren und dem
       Schelm, verzweifelt am Sinn der offiziellen Sprache und am Sinn des
       offiziellen Geschehens.
       
       Warum sich Menschen auf organisierte Weise gegenseitig umbringen? Das ist
       dem Idioten unerklärlich. Er ist, wie Terzić schreibt, ein
       „transzendentaler Beobachter der Welt“. Oder anders gesagt: Weil er nichts
       blickt, blickt er durch. Er lässt sich nicht täuschen, weil die rationalen
       Strategien der Ideologie bei ihm versagen.
       
       Insofern sieht Terzić eine Verwandtschaft zur Philosophie. Sie hält das
       Bekannte für erklärungsbedürftig. Der Idiot mag sich beim Anblick einer
       Praline fragen, was das Leben und das Sein ist. Ebenso der Philosoph. Doch
       wenn der Philosophie alles Seiende nur ein einziges Fließen von Sein und
       Zeit ist?
       
       Der Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ zeigt ein
       Zwillingspärchen, das durch die Landschaft wandelt und über Heidegger
       parliert. Und je höher sie sich in die Abstraktionen des Begriffs
       schwingen, je nichtiger kommt ihnen die Welt vor – bis hin zum Mord. So
       sind wir wieder bei der Idiotie als Déformation professionnelle.
       
       ## Was macht den Unterschied?
       
       Gibt es einen Unterschied zwischen Idiotie und Dummheit? In der Einleitung
       zu seinem dicken Hegel-Buch „Weniger als nichts“ schreibt Slavoj Žižek,
       dass es auf die Stellung zum großen Anderen der Sprache ankomme. Der Idiot
       versteht, wie gezeigt, die Sinngebung nicht.
       
       Der Dumme oder Debile hingegen, so Žižek, identifiziert sich vollauf damit,
       er kennt nichts anderes. Noch jede Phrase und Lüge erscheint ihm plausibel.
       Krieg ist ihm nicht erklärungsbedürftig, sondern natürlich. Die „Dummheit
       des Gescheitseins“ nannte das Adorno. Das Bescheidwissen wehrt Erfahrung
       ab, das Denken wird verdinglicht und verkümmert.
       
       Die These von Terzić ist, dass die Idiotie die anarchische und die Dummheit
       die rationale Seite der Macht darstellen. Mit Alfred Jarrys „König Ubu“
       habe zudem ein neuer Typus des Idioten die Bühne des Theaters und der
       Weltgeschichte betreten – das Zeitalter des Idioten.
       
       Dieser neue Idiot verfolgt weiterhin das Programm der Selbstsabotage und
       -zerstörung, aber nicht gegen die Macht, sondern an deren Spitze. Chaos und
       Ordnung werden kurzgeschlossen. Unregierbarkeit wird das Ziel der
       Regierung. Sinnlosigkeit der Normalzustand. Verwirrung die maßgebliche
       Strategie.
       
       ## Idioten an die Macht
       
       Eine solche Politik findet nach Terzić ihre besten Voraussetzungen im
       schuldengetriebenen Neoliberalismus, im Fatalismus der Krise und der
       zunehmenden Überflüssigkeit der Menschen im Kapitalismus. „Idioten an die
       Macht!“ ist die folgerichtige Parole einer Welt, für die im emphatischen
       Sinne niemand mehr verantwortlich sein wollen kann. Aber aussprechen möchte
       es auch niemand. Wer in diesem Spiel am Ende die Dummen sind? Nahezu alle.
       
       Nun ist „Idiocracy“ nicht nur ein neues Standardwerk zum Idiotischen in
       unserer Kultur, sondern beinhaltet zudem Vorschläge zu einer Idiopraxis,
       wie es Terzić nennt: weder mitmachen noch mitdenken. Und das Idiotische als
       Rückzugsort der Autonomie in einer vollends vernetzten und permanentes
       Feedback einfordernden Gesellschaft begreifen.
       
       Das erinnert an das 2013 erschienene Buch „Morgen werde ich Idiot“ von
       Hans-Christian Dany. Dort heißt es: „Warum nicht lieber die radikale
       Übertreibung des Privaten in Gestalt asozialer Idiotie genießen, um im
       antipolitischen Autismus die Zerstörung des Sozialen ins Monströse zu
       treiben?“
       
       Dieser Aufgabe haben sich die gewählten Idioten einiger der mächtigsten
       Staaten der Welt schon angenommen. Im Zeitalter des Idioten sind die Könige
       zugleich die Narren. Oder ist das nur ein Spiel? Nehmen wir Trump: Ist er
       ein Dummkopf, der den Idioten nur spielt – oder ist er es wirklich? Das
       wäre eine Frage.
       
       Die wichtigere lautet aber vielleicht: Warum ziehen uns die Idioten so sehr
       in ihren Bann? Sind wir ihnen etwa ähnlicher, als wir selbst meinen?
       
       24 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/BernieSanders
   DIR [2] /Essay-Rechtspopulismus-und-Armut/!5344226
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jakob Hayner
       
       ## TAGS
       
   DIR Gegenwart
   DIR Idiotie
   DIR Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Theater
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Kapitalismuskritik
   DIR Literaturwissenschaft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Streitschrift von Žižek über Corona: Kein New Age, please
       
       Werden wir irgendwelche Lehren aus dieser Zeit ziehen? Für den Philosophen
       Slavoj Žižek ist die Coronakrise eine neue Form von Kommunismus.
       
   DIR Buch „Warum Theater“: Neubestimmung nach der Krise
       
       Zwischen den Versprechen der Programmhefte und dem realen Theater klafft
       oft eine große Lücke. Jakob Hayner geht in seinem Buch den Gründen dafür
       nach.
       
   DIR Interviewband der Autorin Sibylle Berg: Alles wird anders
       
       Sibylle Berg hat Interviews mit Wissenschaftler*innen über die Zukunft der
       Welt geführt: „Nerds retten die Welt“ erzählt vom Heute und vom Morgen.
       
   DIR Anleitung zur Kapitalismuskritik: Muss man wissen
       
       Im „ABC des Kapitalismus“ geht es um das Ganze. Die Buchreihe finanziert
       die bevorstehende Einführung des „Jacobin Magazine“ auf Deutsch.
       
   DIR Buch „Der populäre Pakt“: Kleine Form des sinnlichen Glücks
       
       Literaturwissenschaftlerin de Mazza beschreibt die Entwicklung der
       populären Künste – von der Französischen Revolution bis in die zwanziger
       Jahre.