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       # taz.de -- Die Wahrheit: Leben als toter Dichter
       
       > Die medizinische Betreuung eines inwändig abgestorbenen Poeten ist
       > komplex und rechtfertigt sogar den Einsatz etymologischer Wörterbücher.
       
       In den vielen Jahren unausgesetzten Dichtens hatte ich schließlich mein
       Talent zuschandengeschrieben. Fortan galt ich als toter Dichter. Ein
       Sonderarzt, der nur ein einziges Mal aufgesucht werden durfte, erklärte mir
       meine Situation wie folgt: „Sie müssen es sich etwa so vorstellen, dass der
       Ihnen innewohnende Dichter gestorben ist. Sein verwesender Leichnam muss
       schnellstens aus Ihrem Inneren entfernt werden, sonst schädigt Sie das
       Leichengift.“
       
       „Wie soll er denn entfernt werden?“, fragte ich ratlos. Der Sonderarzt ging
       zweimal um mich herum, dann sprach er: „Es war kürzlich ein Patient bei
       mir, der, obwohl er gestorben ist, nicht bestattet werden kann. Nach jeder
       Beisetzung kehrt er lebend zurück.“
       
       Ich verstand nicht, weshalb er mir das erzählte, und fragte ihn erstaunt:
       „Inwieweit sehen Sie darin eine Verbindung mit meinem Fall?“
       
       Der Arzt raunte, er habe das Gefühl, dass beide Fälle auf eine gewisse,
       schwer zu definierende Weise miteinander zu tun haben könnten. Mehr war
       nicht zu erfahren. Zwecks Kontaktaufnahme mit besagtem Patienten
       beziehungsweise dessen Familie schrieb der Arzt mir einen Namen und eine
       Telefonnummer auf. Er gab mir noch den Rat: „Tragen Sie immer einen
       Holzkeil bei sich, den Sie bei Bedarf im Stehen unter Ihren linken oder
       rechten Fuß schieben können, um nicht umzufallen.“
       
       Dann beendete er das Gespräch: „Ich muss Sie bitten, mich jetzt zu
       verlassen. Ich möchte endlich ungestört meine Jazz-Schallplatten anhören.“
       
       Als toter Dichter wusste ich nichts mit mir anzufangen. Ich hatte an nichts
       Interesse und zu nichts Lust. Eine Kontaktaufnahme mit dem Mann, der nicht
       beerdigt werden konnte, war mir unmöglich. Allmählich glaubte ich die
       Wirkung des Leichengifts in meinem Innern zu spüren.
       
       Jemand hatte mir geraten, viel im Etymologischen Wörterbuch zu lesen, auf
       dass mein zerebrales Sprachzentrum stimuliert werde und sich vielleicht
       wieder so etwas wie Inspiration einstelle. Ich schlug wahllos eine Seite
       auf und las: „ ‚Stuhleinsamkeit‘ ist ein Wort mit ca. 15 Buchstaben, von
       denen der erste ein ‚S‘ und der letzte ein ‚t‘ ist. Es gibt bestimmt
       irgendwo jemanden, dem dieses Wort etwas bedeutet.“ Einen zweiten Versuch
       unternahm ich nicht.
       
       Wenig später materialisierte sich ein Gesicht in dem leeren Schuhkarton,
       den ich in meinem Kleiderschrank aufbewahrte, um hin und wieder
       hineinzuschauen. Früher hatte mich seine schuhlose Leere inspiriert. Das
       Gesicht war mir gänzlich unbekannt. Die Augen sahen mich ohne Lidschlag an,
       der Blick war frei von Entsetzen. Ich wartete darauf, dass die Lippen sich
       bewegten und das Gesicht etwas sagte.
       
       Vielleicht würde es mir verraten, wie ich den Leichnam meines inneren
       Dichters loswerden konnte. Doch es blieb stumm. Wahrscheinlich, weil der
       Schuhkarton keinen Raum für einen kompletten Sprechapparat bot. Es tut mir
       leid, dass ich sonst nichts weiter zu berichten weiß.
       
       18 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eugen Egner
       
       ## TAGS
       
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