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       # taz.de -- Von Angst und Hoffnung in Corona-Zeiten: Wunder sind eingeplant
       
       > Vielleicht können wir jetzt schon daran denken, was sein soll nach der
       > Angst. Dass wir uns wieder die Hand schütteln, wenn alles überstanden
       > ist.
       
   IMG Bild: Emmanuel Macron (l), Präsident von Frankreich, und Andrzej Duda, Präsident von Polen, reichen sich bei einer Pressekonferenz die Hände.
       
       „Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.“ An diesem Morgen
       scheinen die ersten Zeilen von Mascha Kalékos Gedicht „Rezept“ wie ein
       Lichtstrahl in ein dunkles Zimmer. „Jage die Ängste fort und die Angst vor
       den Ängsten.“ In unserer neuen Welt mit der Angst fehlt nun das: die
       Erlaubnis, die Angst verjagen zu dürfen. Die Angst scheint das Geländer zu
       sein, mit dem wir überleben. Unser Schutz. Doch Menschen, die Panikattacken
       oder Zwangsgedanken haben, die Stunden voller Angst kennen, wissen es: Erst
       die Angst vor der Angst ist das Schlimmste. Diese Angst steuert das Leben.
       Diese Angst wird zu einem selbst.
       
       In einer neuen Welt aus Angst zu leben, bedeutet nicht, auch vor der Angst
       Angst haben zu müssen: „Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.
       Für die paar Jahre wird wohl alles noch reichen“, schreibt Mascha Kaléko.
       „Das Brot im Kasten und der Anzug im Schrank.“
       
       Ihre Zeilen klingen in meinem Kopf, als ich aus dem Fenster blicke. Auf der
       anderen Straßenseite wird gerade ein Haus gebaut. Die Außenfassade haben
       die Arbeiter am Tag zuvor verspachtelt. Am Abend hat die Bundeskanzlerin
       in einer Ansprache erklärt, wie ernst die Lage in Zeiten des Virus sei. Nun
       früh morgens geht die Sonne auf.
       
       Ein fülliger Mann in einer Malerlatzhose steht vor dem Haus. Er hat ein
       gebräuntes Gesicht und einen geschwungenen, weißen Schnurrbart. Auf dem
       Kopf trägt er ein Malerhütchen. Er legt den Kopf in den Nacken. Er pfeift.
       Minuten vergehen. Der Mann ist allein, in sich versunken. Es scheint seine
       Zeit vor dem Anfang zu sein. Sein Blick wandert über das Haus wie über ein
       Bild.
       
       Was denkt er gerade? Macht er sich Gedanken, dass dieses Haus in der
       Zukunft vielleicht gar nicht fertig wird, dass die Firmen nicht mehr zahlen
       können, die Menschen, die dort einziehen wollen, krank werden oder mutlos?
       Er sieht nicht so aus, als würde er daran denken. Der Mann nimmt einen
       Spachtel in die Hand. Ein anderer Arbeiter kommt hinzu. Der Mann steigt auf
       das Gerüst. Er schmirgelt den Putz an der Hausfassade glatt. Dann nimmt er
       einen Bierkasten, stellt ihn auf das Gerüst, steigt darauf und schmirgelt
       so dort oben weiter, wo er eben nicht hinkam.
       
       „Jage die Ängste fort. Und die Angst vor den Ängsten.“ Bei dem Mann auf dem
       Gerüst hat die Angst keinen Platz. Er ist mit seinem Tun beschäftigt. Der
       Gegenwart. Ich öffne das Fenster. Sein Schmirgeln klingt herüber. Ein
       Geräusch wie ein Ja an die Zukunft. Die Angst ist fort. Ohne Angst vor der
       Angst bleibt Kraft für die Gegenwart und Platz für die Hoffnung.
       
       „Es ist wahr, was sie sagen“, schreibt Mascha Kaléko: „Was kommen muss,
       kommt. Geh dem Leid nicht entgegen. Und ist es da, sieh ihm still ins
       Gesicht. Es ist vergänglich wie Glück.“
       
       Vielleicht können wir jetzt schon an den Anfang denken. Was wieder sein
       soll nach der Angst. Es heißt ja, dass Menschen nach einem Unfall möglichst
       bald, als Kranke noch, mit der Rehabilitation beginnen sollen. Ich schaue
       zum Haus. Der Mann liegt nun ausgestreckt auf dem Gerüst, um eine Stelle an
       der Wand mit dem Spachtel zu erreichen. Selbst von hier drüben sehen seine
       Hände kräftig aus. Wie es sich wohl anfühlt, ihm die Hand zu geben? Ob er
       Schwielen hat? Was zeigt er von sich im Händedruck?
       
       Ja, auf das will ich hoffen. Auf den Handdruck. Dass wir uns wieder die
       Hand schütteln, wenn alles überstanden ist. Unseren Begegnungen so wieder
       einen starken Anfang und ein Ende geben, mit dem Handschlag wieder Alltag,
       Geschäfte und Frieden regeln. Dass wir die Einschnitte unserer Freiheit
       nicht als normal verinnerlichen. Dass wir die Ängste fortjagen, wenn sie
       nicht mehr nötig sind. Und der Handdruck so nicht zum vergangenen Gruß
       wird, sondern zum Ausdruck einer neuen Unbekümmertheit.
       
       Diese Hoffnung bewahre ich in mir bis zum neuen Anfang auf. Von drüben
       klingt nun Lachen. Eine Hauswand ist fertig geschmirgelt. Glatt und schön
       sieht sie aus. Der Mann und ein Arbeiter machen zusammen Pause. „Zerreiß
       Deine Pläne“, schreibt Mascha Kaléko. „Sei klug und halte dich an Wunder.
       Sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan.“
       
       21 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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