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       # taz.de -- Alltag und Familie im Corona-Modus: Corona-Chor im Mietshaus
       
       > Familienleben im Ausnahmezustand. Die Alten: im Krisenmodus. Die Kinder
       > dagegen: Musterbeispiele staatsbürgerlicher Vernunft- wer hätte das
       > gedacht?
       
   IMG Bild: Okay, dann eben auch kein Spielplatz mehr
       
       Erstaunlich, wie schnell man sich an den Ausnahmezustand gewöhnt. Urlaub
       abgesagt, Konzert- und Theaterkarten storniert, so selten einkaufen wie
       möglich, statt Sport im Studio allein vor dem YouTube-Video turnen. Und man
       akzeptiert ohne Weiteres, dass der Staat (!) in Berlin (!!) sämtliche
       Kneipen und Clubs dicht macht.
       
       Besonders gestaunt habe ich darüber, wie schnell der Nachwuchs bereit und
       in der Lage ist, sich den sich täglich verändernden Lagen anzupassen. Uns
       Eltern hatte es gegraust vor dem Coronakrisenalltag: Der eine, Freiberufler
       ohne Aufträge, voller Sorgen und doch jetzt für Bildung, Beschäftigung und
       Zur-Krisenvernunft-Erziehung der Kinder zuständig. Die andere als physisch
       präsenter Stabilitätspfeiler in einer sich zusehends in kleine digitale
       Arbeitseinheiten aufsplitternden Zeitungsredaktion.
       
       Dann die Sorgen um die Verwandtschaft: Geht der Schwager jetzt pleite?
       Kommt Opa rechtzeitig aus der Reha? Wie geht es der Tante im Altenheim? Und
       das alles untermalt von einem zwanghaft abgerufenen und nicht abreißenden
       Strom von schlechten Nachrichten, Seuchenprognosen von Virologen,
       aktualisierten Todesraten, immer neuen Grenzschließungen und lokal
       unterschiedlich ausgeprägten Panikreaktionen.
       
       In den USA horten sie jetzt Waffen, und der Inhaber des Sprirituosenladens
       in unserer Straße nagelte seine Tür mit Latten zu, um sich vor eventuellen
       Plünderungen zu schützen. Paranoid, ja – aber wer ist in diesen Tagen nicht
       mindestens einmal doch kurz panisch geworden, bei aller rationalen
       Aufgeklärtheit, die man sonst gern zur Schau trägt? Es sterben mehr
       Menschen im Straßenverkehr und an der saisonalen Grippe, ja. Aber. Als ich
       dieses grauenhafte Video gesehen habe aus einer [1][norditalienischen
       Notaufnahme], da musste ich dann doch den Gin aufmachen, den ich noch
       schnell im Spirituosenladen gekauft hatte.
       
       ## Mama, wann kommt die Ausgangssperre?
       
       Die Kinder dagegen: kleine Musterbeispiele der Vernunft, wer hätte das
       gedacht?! Am Montag hieß es noch ganz unreflektiert: Hurra, Coronaferien!
       Am Dienstag: Na gut, dann eben Hausunterricht mit Papa am Küchentisch, dann
       aber auf den Spielplatz. Am Mittwoch: Okay, dann eben kein Spielplatz mehr.
       Welche Freunde dürfen wir noch treffen? Und am Donnerstag, bereits ganz
       staatstragend: Mama, wann kommt die [2][Ausgangssperre]? Was hat Merkel
       gesagt?
       
       [3][Merkel] hat zwar ein Musterbeispiel an politischer Kommunikation
       hingelegt in ihrer Ansprache: Augenmaß, Mündigkeit,
       Verantwortungsbewusstsein. Aber ob das reichen wird, da habe ich so meine
       Zweifel, wenn ich mich im Kiez umschaue: Der Männerfriseur nebenan ist zur
       informellen Kneipe geworden, der Späti zur Flüsterbar, und am Ufer lagert
       die Jugend dicht aneinander gedrängt und lässt die Pulle kreisen, als ob
       nix wäre. Man konnte zwar beobachten, dass am Donnerstagabend bereits
       deutlich weniger los war – offenbar hatte die Kanzlerinnenansprache
       unmittelbare Wirkung gezeitigt. Aber ob das von Dauer ist? Es wird
       schließlich Frühling, und die Hormone schlafen nicht, Corona hin oder her.
       
       ## „Die Pest“ ist im Buchladen ausverkauft
       
       In Bayern profilierte sich Söder bereits als Staatsmann und hält seine
       Landsleute durch Zwang vom Biergarten fern. Besser, man stimmt sich schon
       mal ein auf die Kasernierung. Also noch schnell zum Buchladen, Literatur
       auf Vorrat besorgen. Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt, mal „die Pest“
       von Camus zu lesen? Die Buchhändlerin lacht: Zu spät, ist schon seit Wochen
       ausverkauft. Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ sei aber auch sehr schön.
       
       Habe ich noch zu Hause: „Ha! Ihr seid nur zwei? Ich dachte, ihr wäret mehr.
       Er lacht. Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt... Wißt ihr
       noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost... Was für Albernheiten. Ein Rost ist
       gar nicht nötig, die Hölle, das sind die anderen.“
       
       Na ja, noch sind wir nicht so weit. Vielleicht könnte man es erst mal mit
       dem Fragebogen von Max Frisch versuchen, der leicht angestaubt im
       Bücherregal steht. Frisch ist sowieso für alle Lebenslagen gut, warum nicht
       auch für diese spezielle? „Beneiden Sie manchmal Tiere, die ohne Hoffnung
       auszukommen scheinen, z.B. Fische in einem Aquarium?“ Oder auch: „Wieviele
       Stunden am Tag oder wieviele Tage im Jahr genügt Ihnen die herabgesetzte
       Hoffnung: daß es wieder Frühling wird, daß die Kopfschmerzen verschwinden,
       daß etwas nie an den Tag kommt, daß Gäste aufbrechen usw.?“
       
       Vielleicht ist aber auch Max Frisch keine gute Idee: „Wenn der Atem
       aussetzt und der Arzt es bestätigt: sind Sie sicher, daß man in diesem
       Augenblick keine Träume mehr hat?“
       
       Besser ins Bad gehen, Hände waschen und bei geöffnetem Fenster in den
       Corona-Chor der Nachbarn einstimmen. Während die einen „Happy Birthday“
       absingen, dichten die anderen einen Seemannsklassiker um: „La Corona, oje!
       Einmal muss es vorbei sein...“
       
       20 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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