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       # taz.de -- Steile These zur Corona-Krise: Unsere Mathe-Verachtung ist tödlich
       
       > Bildungsbürger kokettieren gern damit, von Naturwissenschaften keine
       > Ahnung zu haben. Die Covid-19-Krise könnte das ändern.
       
   IMG Bild: Christian Drosten am 21. Januar. Hätten wir doch damals schon auf ihn gehört!
       
       Christian Drosten, für die Medien der „Chefvirologe der Berliner Charité“,
       ist der Mann der Stunde. [1][Die Zeit fragt]: „Ist das unser neuer
       Kanzler?“. Das ist bemerkenswert, denn Kanzlerfähigkeit attestiert die
       Hamburger Wochenzeitung nur sehr selten. Schließlich ist für sie das Maß
       aller Dinge der Ex-Kanzler, Krisenmanager und Allesversteher Helmut
       Schmidt, der jahrzehntelang ihr Herausgeber war.
       
       Die Christian Drostens der Republik sind gerade gefragt, ihre
       wissenschaftlichen Ratschläge begehrt. Die Öffentlichkeit hängt an ihren
       Lippen, weil sie erklären, wie das so funktioniert mit den Viren und wie
       schnell sich Covid-19 verbreitet.
       
       Die derzeitige Bewunderung für die Wissenschaftler ist die Kehrseite von
       gesellschaftlicher Gleichgültigkeit in normalen Zeiten. Wenn nicht gerade
       eine Pandemie ausbricht, sind Virologen, Naturwissenschaftler generell
       sowie auch Mathematiker die Nerds, denen man nicht richtig zuhört. Wäre
       Deutschland ein Haus, würden die Christian Drostens im Keller leben.
       Abgeschieden forschen sie vor sich hin, während die Bewohner der oberen
       Etagen durchaus froh sind, dass sie da unten leben – man könnte sie ja mal
       brauchen.
       
       Naturwissenschaftler sind in normalen Zeiten eine stille Provokation für
       die Mehrheitsgesellschaft, weil sie das tun, was viele wollen. Sie gehen
       einer sinnhaften Beschäftigung nach und pfeifen darauf, was in der
       gehobenen Berufswelt sonst zählt: oberflächliches Sozialprestige, Blenden,
       Bluffen, Geld. Sie könnten, wenn sie wollen, ihre Intelligenz problemlos in
       ein viel höheres Einkommen ummünzen. Die Unternehmensberatung McKinsey
       etwa, wo überzahlte Berater Unternehmen oder dem Staat das Geld aus der
       Tasche ziehen, versucht seit Jahren, gezielt Mathematiker und Physiker zu
       rekrutieren.
       
       ## Der altmodische Wert Erkenntnisinteresse
       
       Christian Drosten, gelernter Arzt, entschied sich, im Labor zu verschwinden
       und zu forschen. Als Ober- oder Chefarzt im wehenden weißen Kittel hätte er
       bereits früher viel Anerkennung bekommen können. Naturwissenschaftler
       konzentrieren sich auf einen so altmodischen Wert wie Erkenntnisinteresse.
       Sie wollen wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und nicht so, wie
       wir sie uns wünschen.
       
       Mathe-Nerds sind schon in der Pubertät oft die Außenseiter. Nerds tanzen
       eher ungelenk und verbringen zu viel Zeit mit Science-Fiction-Lektüre. Sie
       sind eher unsportlich und tragen praktische Kleidung. Ihr Interessengebiet
       ist für andere unsexy und schwer zu durchschauen. Natürlich trifft das
       nicht auf alle zu, sondern, wie Naturwissenschaftler sagen würden, auf eine
       Teilmenge. Allerdings eine relativ große.
       
       Nerds werden erst mit Ende zwanzig außerhalb der eigenen Population sexuell
       und fortpflanzungstechnisch interessant, wenn sie einen Titel tragen und
       weiter gekommen sind als der hippe Hobby-DJ aus der gleichen Schulkasse,
       der immer noch irgendwelche Projekte macht. Gerade Mathematik, die
       Grundlage der Naturwissenschaften, ist uncool – zumindest in Kreisen, die
       zwar nicht unbedingt an den Schalthebeln der Macht sitzen, aber den
       Zeitgeist und den gesellschaftlichen Geschmack entscheidend mitbestimmen.
       
       In den sogenannten klassisch gebildeten Milieus ist es sozial akzeptiert,
       wenn man damit kokettiert, schlecht in Mathe gewesen zu sein. Kein Mensch
       in diesen Milieus würde zum Beispiel auf einer Party beim Smalltalk
       zugeben, dass er noch nichts von Goethe gelesen hat; das würde den sozialen
       Tod bedeuten.
       
       ## Man kennt Goethe, aber keine Exponentialkurven
       
       Diese Haltung zeigt sich auch bei vielen, die derzeit an den föderalen
       Hebeln sitzen. Sie mögen zwar Goethe kennen, konnten sich aber meist nicht
       vorstellen, dass bei einer Exponentialkurve eine anfangs scheinbar harmlose
       Zunahme der Infizierten plötzlich so durch die Decke schießt. Das hat
       Folgen, die derzeit Tote fordern.
       
       Die Christian Drostens der Republik haben schon früh gewarnt, dass die
       Zunahme der Corona-Infektionen exponentiell und nicht linear ist: Wenn
       jeder Infizierte nur zwei Menschen ansteckt, dann geht die Kette so: 1, 2,
       4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 – und so weiter. Wenn sich die Zahl der
       Infizierten alle drei Tage verdoppelt, dann würde das Robert-Koch-Institut
       bereits nach 42 Tagen 16.384 Infizierte zählen. Zum Vergleich: Wenn jeden
       Tag zwei neue Infizierte hinzukämen, was einer linearen Kurve entspräche,
       wären es nach 42 Tagen nur 85 Menschen.
       
       Die Versuche, der Öffentlichkeit exponentielles Wachstum zu erklären, haben
       etwas Rührendes. Gesundheitsminister Jens Spahn veröffentlichte jüngst zwei
       Kurven, die wahrscheinlich noch nicht mal in der sechsten Klasse durchgehen
       würden: Eine ging exponentiell nach oben und dann wieder nach unten (warum,
       wurde nicht erklärt), die andere sah wie ein gemütlicher Mittelgebirgshügel
       aus. Spahn sagte lieber nicht, wie viele Faktoren ins Spiel kommen müssen,
       damit die Kurve demnächst wie ein Mittelgebirge aussieht.
       
       ## Na vielen Dank, Humboldt!
       
       Schuld an der Geringschätzung von Naturwissenschaften und Mathe [2][ist
       Wilhelm von Humboldt]. Von dem stammt das „Humboldtsche Bildungsideal“, vor
       dem der deutsche Bildungsbürger bis heute in Ehrfurcht erstarrt. Mit
       Humboldt verbunden ist die „umfassende Persönlichkeitsbildung“. Bildung
       soll demnach der Selbstverwirklichung dienen und ist kein Mittel zum Zweck,
       sondern Selbstzweck. Ganz schlimm ist für die Humboldt-Ideologen das Wort
       „Nützlichkeit“. Bildung darf nicht nützlich sein!
       
       Der Goldstandard in diesen Kreisen sind alte Sprachen. Wer hier glänzt,
       hätte seine Intelligenz und sein logisches Denken ebenso gut in
       Naturwissenschaften einsetzen können – aber diese Fächer sind zu trivial,
       weil nützlich. Als Auffangbecken für die nicht so begabten
       Bildungsbürgerkinder steht heute das Fach Deutsch bereit. Hier werden diese
       Fähigkeiten belohnt: schriftliches und mündliches Schwadronieren,
       Sich-gut-präsentieren-Können, Hauptsache, eine Meinung haben, den Gegenüber
       zutexten können.
       
       Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts existierten in Deutschland
       zwei Arten von Gymnasien: das „echte“, altsprachliche Gymnasium und das
       Realgymnasium. Die Bildungselite schickte ihre Kinder natürlich auf
       Ersteres; die Bildungsaufsteiger gingen auf das Realgymnasium, auf dem so
       furchtbar nützliche Fächer wie neue Sprachen und Naturwissenschaften
       schwerpunktmäßig unterrichtet wurden.
       
       Mathematik und Naturwissenschaften sind bis heute der Aufstiegskanal für
       solche, die aus weniger privilegierten Familien kommen. Das hat praktische
       Gründe: Mathe ist verdammt billig. Man braucht neben Talent einen
       Taschenrechner oder ein Handy und einen Internetanschluss, früher ein paar
       Fachbücher.
       
       ## MINT-Fächer als Aufstiegschance
       
       Nur mit einem Block und einem Stift ausgestattet, kann ein Mathefreak
       stundenlang in selbst gestellten Aufgaben versinken. Man benötigt keine
       repräsentative Bücherwand, die man oder die Eltern sich in Jahrzehnten
       mühselig aufgebaut haben, um mitreden zu können.
       
       Deshalb sind Mathe und Naturwissenschaften auch attraktiv für
       Migrantenkinder. Diese Fächer beruhen auf universell geltenden Gesetzen und
       Formeln, die für sie einfacher zu durchdringen sind als die Blackbox des
       deutschen Bildungsdünkels. Der Dreisatz und die Expontialrechnung gelten
       überall.
       
       Die internationale Mathe-Community verständigt sich per Fach-Englisch, das
       aus einem relativ geringen Wortschatz besteht. Mathe ist inklusiv, nicht
       exklusiv. Genau deshalb sind die sogenannten MINT-Fächer, Mathe,
       Informatik, Naturwissenschaften, Technik, im deutschen Bildungsbürgertum
       verpönt, weil man über sie keine soziale Abgrenzung herstellen kann.
       
       Die Corona-Katastrophe könnte etwas Gutes haben: dass man die Nerds aus dem
       Keller holt und in die oberen Etagen lässt, weil dort gerade Chaos und
       Überforderung herrschen.
       
       24 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zeit.de/2020/13/coronavirus-wissenschaft-auswirkung-auf-politik-virologen-christian-drosten-alexander-kekule
   DIR [2] /Schau-zu-den-Bruedern-Humboldt/!5640943
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gunnar Hinck
       
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