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       # taz.de -- Zum 30. Jahrestag des Abtritts Pinochets: Mein Vater, der Mörder
       
       > Pepe Rovano ist Filmemacher und schwul. Seinen Vater hatte der Chilene
       > lange nicht kennengelernt – einen Polizisten, der gefoltert und getötet
       > hat.
       
   IMG Bild: Pepe Rovano: „In Spanien habe ich zu mir gefunden“
       
       Pepe Rovano ist 33 Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Bild von seinem
       leiblichen Vater sieht. Es ist schwarz-weiß und zeigt einen mitgenommen
       aussehenden Mann in den Fünfzigern mit einem Ansatz zur Glatze. Vor allem
       zeigt es jemanden, in dessen Zügen Rovano sich wiedererkennt. Im Artikel
       unter dem Foto steht, dass dieser Mann, der Polizeioberst Rodrigo Retamal,
       während der chilenischen Militärdiktatur sechs Angehörige der
       kommunistischen Partei gefoltert und ermordet hat.
       
       Das Foto bewegt Rovano, zurück in sein Heimatland Chile zu ziehen und
       diesen Vater zu suchen. Während Chile 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur
       derzeit mit dem Erbe Pinochets kämpft, hat Rovano einen Weg gefunden, mit
       dem Erbe seines Vaters umzugehen.
       
       Als Pepe Rovano 14 Jahre alt ist, erzählt ihm seine Mutter, dass sein Vater
       sie vor seiner Geburt verlassen hat. Sie gibt ihrem Sohn eine Mappe mit
       Briefen und Gedichten, Beweis einer vierjährigen Liebesbeziehung. Im
       letzten Brief 1975 schreibt die Mutter dem Polizisten Retamal: „Meine
       einzige Sünde war, dass ich dich geliebt habe. Vorgestern bin ich zum Arzt
       gegangen, der meine Vermutung bestätigt hat. Ich bin schwanger. Mein Sohn
       wird dich nie belästigen.“
       
       Als Rovano Ende der 80er Jahre seine Schule beendet, ist die schlimmste
       Phase der Diktatur vorbei. Auf seine Schule gehen viele Kinder von
       Familien, die gerade aus dem Exil zurückgekommen sind. Rovano sagt, diese
       Zeit habe ihm die Augen geöffnet.
       
       ## Der 11. März 1990
       
       1988 stimmt Chile in einem Volksentscheid darüber ab, ob [1][Augusto
       Pinochet] weiterregieren soll. 15 Jahre alt ist Rovano da, und er engagiert
       sich in der Kampagne für ein „Nein“. 55,9 Prozent stimmen schließlich gegen
       den Diktator und machen den Weg für den Übergang zur Demokratie am 11. März
       1990 frei. Was folgt, ist kein harter Bruch mit der Diktatur, sondern ein
       Kompromiss mit den Militärs. Die Verfassung, die Eigentum und Marktfreiheit
       über alles stellt, bleibt in Kraft.
       
       Heute [2][protestieren] Woche für Woche Tausende Chilenen gegen die soziale
       Ungleichheit in ihrem Land. „Wir haben heute eine soziale Krise, die
       während der Diktatur begonnen hat“, sagt Rovano. Am 26. April wird das Land
       darüber abstimmen, ob die Verfassung aus der Zeit der Diktatur durch eine
       neue ersetzt werden soll.
       
       Anfang der 1990er Jahre will Rovano weg aus Chile. Er weiß, dass er
       homosexuell ist, nur viele Chilenen wissen noch nicht, dass das in Ordnung
       ist. „Es gab in der Diktatur Werbespots im Fernsehen, in denen es hieß:
       Homosexualität, Pädophilie, Drogenabhängigkeit – diese Probleme sind
       heilbar“, erinnert sich Rovano. An der Uni hat er Freundinnen, spielt allen
       vor, hetero zu sein. Nach dem Studium geht er nach Europa.
       
       „In Spanien habe ich zu mir gefunden“, sagt Rovano. 2005 wird dort die
       gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt. Als Dokumentarfilmer beginnt er eine
       Arbeit über die Verschwundenen der spanischen Diktatur. Irgendwann fragt
       sich Rovano, was mit dem „Verschwundenen“ in seiner eigenen Familie ist,
       was mit seinem Vater.
       
       ## Die ersten Informationen
       
       2008, während Rovano gerade in Chile ist, um die Öffnung von Massengräbern
       der Diktatur zu begleiten, passiert es: Ein Freund gibt ihm einen Bericht
       über einen Gerichtsprozess. Es geht um Verbrechen während der chilenischen
       Diktatur. Von der Titelseite starrt ihn der Mann an, der ihm so bekannt
       vorkommt, obwohl er ihn zum ersten Mal sieht.
       
       Der Bericht beschreibt, wie am 11. Oktober 1973, genau einen Monat nach dem
       Militärputsch, Soldaten und Polizisten bei Las Coimas im Norden von Chiles
       Hauptstadt Santiago eine Gruppe von Mitgliedern der kommunistischen Partei
       durch die Nacht transportieren. Die Angeklagten, darunter Rovanos Vater,
       gaben später an, einen Fluchtversuch verhindert zu haben. Die Ärzte, die
       die Autopsie durchführten, stellten Schüsse aus der Nähe in den Kopf fest,
       zudem Spuren von Folter. Retamal wurde 2007 zu zwölf Jahren Haft
       verurteilt, aber wenige Monate später amnestiert. Schon 1978 hatten die
       Generäle ein Amnestiegesetz beschlossen, Verbrechen aus der schlimmsten
       Phase der Diktatur wurden nicht mehr bestraft. „Als ich diesen Mann mit den
       schwarzen Haaren und den braunen Augen sah, habe ich realisiert, dass ich
       der Sohn eines Mörders bin“, sagt Rovano.
       
       „Ich habe mich geschämt, ich hatte Angst. Ich wollte diesen Verbrecher
       nicht kennenlernen“, sagt er. „Aber ich wollte auch wissen, wie es sich
       anfühlt, einen Vater zu haben. Und ich wollte seine Beweggründe verstehen.“
       Es dauert zwei Jahre, bis Rovano sich überwindet. Vater und Sohn treffen
       sich 2010 in Viña del Mar in Chile. Wie in einem Vorstellungsgespräch
       erzählen sie sich ihre Lebensläufe. Am Ende fragt Rovano, ob er ihn Papa
       nennen darf. Retamal sagt ja.
       
       Rovano bleibt eine Woche, lernt die Familie kennen und entscheidet sich
       dann dazu, zurück nach Chile zu ziehen und einen Film über seinen Vater und
       den Fall Las Coimas zu drehen. Er bezieht ein kleines Haus auf einem
       malerischen Hügel am Rand der Hafenstadt Valparaiso. Von seiner Türe sind
       es wenige hundert Meter zum Haus seines Vaters.
       
       Nach und nach lernt Rovano die Familie des Vaters kennen, fast alle sind
       Polizisten. Er wird zu Weihnachten eingeladen, zu Silvester, zu Taufen. Nur
       zwei Dinge erzählt er nicht: dass er zu den Angehörigen der Opfer Kontakt
       geknüpft hat und dass er homosexuell ist.
       
       In Videointerviews befragt Pepe Rovano seinen Vater zu den Morden und
       hofft, Reue zu finden – das Gegenteil ist der Fall. Der Vater ist stolz auf
       sein Handeln und streitet jede Schuld ab. „Leute wie er denken noch heute,
       sie hätten Chile vor den Kommunisten gerettet“, sagt Rovano. Eines Tages
       schenkt der Oberst seinem Sohn einen Orden von Pinochet persönlich –
       „Mission erfüllt“ steht darauf.
       
       Den Angehörigen der Opfer seines Vaters erzählt er, dass er einen Film über
       den Fall dreht. Dass er der Sohn des Täters ist, sagt er nicht. „Was
       würdest du machen, wenn der Sohn des Mörders deines Vaters zu dir kommt?
       Ich brauchte Zeit, zu zeigen, dass ich auf ihrer Seite stand“, sagt Rovano.
       
       In der Familie Retamal wissen damals alle außer seinem Vater von Rovanos
       Homosexualität. „Ich wusste, dass er mich nicht akzeptiert hätte, er war
       ein Macho und Frauenheld“, sagt Rovano. Die Frau seines Vaters bittet ihn:
       „Sag es ihm nicht, Pepe. Er will einen Mann als Sohn, wo er doch sonst nur
       Töchter hat.“
       
       Rovano hält sich daran, bis er einen Arzt kennenlernt – seinen ersten
       festen Freund. „Mit 37 Jahren willst du die Person, die du liebst, nicht
       mehr vor deinem Vater verstecken“, sagt er. Als er es ihm sagt, meint der
       nur: „Ah“. Danach trinken die beiden eine Flasche Whiskey. „Er hat mir den
       ganzen Abend von Frauen erzählt, also habe ich von Männern erzählt“, sagt
       Rovano. Er weiß, dass sein Film dem Vater schaden wird. Als sich dessen
       Gesundheit verschlechtert und die Ärzte sagen, dass er sterben werde,
       stellt Rovano die Arbeit am Film vorübergehend ein. „Ich konnte mir nicht
       helfen, ich mochte ihn.“
       
       ## Der Tod des Vaters
       
       2015, fünf Jahre nach ihrem Kennenlernen, stirbt sein Vater. Rovano ist bei
       der Beerdigung und nimmt die Beileidsbekundungen der Polizeikollegen
       entgegen. Ein Polizeiorchester spielt den Totenmarsch, vier Uniformierte
       stehen Wache am Sarg, auf dem die Flagge der chilenischen Polizei liegt.
       „Das darf nicht wahr sein“, denkt Rovano. „So stirbt ein verurteilter
       Verbrecher gegen die Menschenrechte.“
       
       Nach der Beerdigung nimmt ihn ein Polizeigeneral beiseite. Er teilt ihm
       mit, dass der Vater ihn vor seinem Tod enterbt habe – nicht etwa wegen
       seiner Nachforschungen im Fall „Las Coimas“, sondern wegen seiner
       Homosexualität.
       
       Rovano wendet sich an seine neue Familie und stößt plötzlich auf Ablehnung.
       „Ich hatte dich ja gewarnt“, sagt die Frau seines Vaters. „Ich war mir nie
       ganz sicher, ob du tatsächlich sein Sohn bist“, sagt seine Halbschwester.
       „Das hat mir das Herz gebrochen“, sagt Rovano. Er beschließt zu handeln.
       
       Er verklagt die Familie und gewinnt das Recht, den Namen Retamal zu tragen
       – und zusätzlich etwa 50.000 Euro aus dessen Erbe. Und er offenbart sich
       den Opfern seines Vaters. „Ich hatte befürchtet, dass sie wütend werden,
       mich davonjagen“, erzählt Rovano. „Das Gegenteil war der Fall. Er trifft
       auf Verständnis und Akzeptanz. Sie sagen: „Pepe, du hast nichts falsch
       gemacht. Du erbst nicht den Mord deines Vaters.“
       
       2017 hört Rovano von der argentinischen Organisation „Historias
       Desobedientes“ – wörtlich „Ungehorsame Geschichten“. Es sind Angehörige von
       Tätern, die die Verbrechen ihrer Eltern aufarbeiten wollen. Das bringt
       Rovano auf eine Idee: Er gründet 2019 einen chilenischen Ableger der
       Organisation. 3.000 Menschen sind in Chile während der Diktatur
       verschwunden. Nur von 100 hat man Überreste gefunden. Und obwohl 40.000
       Fälle von Folter bekannt sind, sitzen nur rund 100 Verantwortliche im
       Gefängnis. „Ich glaube nicht, dass diese 100 Personen allein dafür
       verantwortlich sein sollen“, sagt Rovano. „Wir kennen die Verbrecher, wir
       können Informationen beisteuern“, sagt er. Er übergibt die Interviews mit
       seinem Vater Anfang 2019 an ein chilenisches Gericht. Die Angehörigen der
       Opfer können damit 47 Jahre nach der Tat den Fall wieder öffnen. So kann
       seinem Vater möglicherweise posthum die Amnestie entzogen werden.
       
       Im Januar dieses Jahres steht Rovano mit anderen Mitgliedern der Gruppe
       „Historias Desobedientes“ auf der Plaza Italia im Zentrum von Santiago. Er
       hält ein Transparent in der Hand. Darauf steht: Schluss mit dem Pakt des
       Schweigens! In Spanien, so erzählt er, habe er oft die Enkel der
       Verschwundenen an den Gedenkstätten getroffen. Sie hätten ihm gesagt, dass
       sie auf der Suche nach ihren Großeltern seien, weil ihre Eltern mit dem
       Schmerz gestorben seien, diese nie gefunden zu haben. „Wenn man dieses
       Verschwinden nicht stoppt, wird der Schmerz vererbt – von Generation zu
       Generation. Sie sollen uns sagen, wo die Verschwundenen sind!“
       
       10 Mar 2020
       
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