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       # taz.de -- Einkaufen war schon immer eine Plage: Das Virus zeigt nur, was ist
       
       > Die Krise könnte uns dazu bringen, unser Gegenüber nur noch als Zumutung
       > zu begreifen, wird gewarnt. Aber hat es dafür wirklich das Virus
       > gebraucht?
       
   IMG Bild: Nahkampf im Bioladen-BRRRRRR- wer hat Vorfahrt
       
       Das Virus produziert den Ausnahmezustand, könnte man meinen. In der Tat
       verkündet der Deutschlandfunk am Montagmorgen forsch, das Land befinde sich
       in einem ebensolchen. Man kann, wie der italienische Philosoph Giorgio
       Agamben, noch weiter gehen und behaupten, die Epidemie sei bloß ein
       Vorwand, um den Ausnahmezustand verhängen und Menschlichkeit endgültig aufs
       nackte Leben reduzieren zu können.
       
       Wie so oft ist die Wirklichkeit banaler. Das Virus bringt zum Vorschein,
       was schon da war, ganz egal, ob es der soziale Antagonismus, das schlechte
       Benehmen oder der autoritäre Charakter ist.
       
       Ich gehe nicht gern einkaufen, schon gar nicht in Supermärkten. Waren
       suchen nervt. Ich verstehe aber vor allem nicht, was so schwer daran sein
       soll, dem Vordermann, also mir, nicht mit dem Einkaufswagen in die Hacken
       zu fahren. Geht's schneller, wenn man die Leute nervt, die vor einem in der
       Schlange stehen?
       
       Jetzt ist schon seit Wochen von diesem neuen Virus die Rede und die Leute
       haben immer noch nicht begriffen, dass es vielleicht angebracht wäre,
       Abstand zu halten und in die Armbeuge zu husten.
       
       Im Biosupermarkt, der mir immer schon als Castingshow für
       Charakterdarsteller der Neuen Mitte erschienen war, bietet mir eine dieser
       sich sicher auch schon vor Corona allzeit gesund ernährenden
       Upperclass-Yogafrauen allen Ernstes an, mir meinen im Einkaufswagen
       steckenden Chip für einen Euro abzukaufen, weil ich für ihren Geschmack
       offenbar nicht schnell genug meine Einkäufe verstaue. Das ist idiotisch,
       weil ich auch nach Veräußerung meines Chips meinen Einkauf noch nicht in
       meine Fahrradtaschen gepackt haben würde.
       
       ## Übermenschin versus Loser
       
       Im Biosupermarkt, so hat es eine kluge Freundin formuliert, verteidigt die
       deutsche Mittelschicht ihren Platz in der Geschichte.
       
       Kaum habe ich die Bananen als Letzte oben in der Tasche platziert und diese
       aus dem Wagen gehievt, schnappt ihn sich die Frau, fährt ihn energisch zu
       den anderen, schließt ihn an, entnimmt meinen Chip, überreicht ihn mir mit
       leicht spöttischem Gesichtsausdruck und steckt ihren Euro in den Schlitz.
       
       Diese Aktion hat ihr nicht nur einige Sekunden im Run auf eine baldige Pole
       Position an der Kasse eingebracht und also Bonuspunkte im survival of the
       fittest, sondern auch das Vergnügen, mich praktisch darüber zu belehren,
       dass meine Langsamkeit ein Verhalten darstellt, das bei der Ausübung ihres
       überlegenen Lifestyles stört.
       
       Hat das Virus diese Frau zur Übermenschin mutieren lassen, der Loser wie
       ich im Weg stehen? Vermutlich nicht. Ein unter den herrschenden Umständen
       optimal funktionierendes Subjekt war sie aller Wahrscheinlichkeit schon
       zuvor gewesen. Theoretiker der Sozialmedizin warnen uns nun davor, die
       Krise könnte uns dazu bringen, unsere Gegenüber als potenzielle Gefahr, als
       Überträger des Virus zu betrachten. Das wäre eine bloß milde Verschärfung
       der längst eingeübten Verhaltensweisen der Konkurrenz in allen
       Lebensbereichen.
       
       Das Virus zeigt uns also nur, was der Fall ist und was wir schon längst
       wissen. Eine Gesellschaft, in der die Erlangung von Vorteilen das oberste
       Gebot ist und in der Solidarität nur als großzügig gewährte individuelle
       Spende gedacht werden kann, produziert notgedrungen Irrsinn, wie
       beispielsweise SUV-Fahren als vorausschauende Maßnahme der Verpanzerung
       beim Kampf um die Erlangung von Ressourcen, der unter anderem von der
       Klimakrise befeuert wird, die man mit SUV-Fahren gerade selbst herbeiführt.
       Dieses Regime der Unvernunft war schon vor Corona nicht nachhaltig.
       
       Aber es gibt in all dieser Trübsal auch schöne und erhebende Momente. Etwa
       das Bild von Angela Merkel, wie sie an der Supermarktkasse steht, mit drei
       Flaschen Weißwein im Einkaufswagen. Das ist Demokratie.
       
       25 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
       ## TAGS
       
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