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       # taz.de -- Sprache in der Corona-Krise: Das Virus der Konformität
       
       > Worte sind nicht ansteckend, doch sie übertragen eine Haltung, die sich
       > schnell verbreiten kann. Über Sprache und Denken im
       > Corona-Ausnahmezustand.
       
   IMG Bild: Versteckspiel oder Angst vor Konformität? Phantasie kann helfen
       
       Wo kam sie ursprünglich her, die Metapher vom „Runterfahren“ der
       Gesellschaft, die damit zu einer Maschine wird, mit einem gedachten großen
       Hebel? Der Begriff ähnelt dem Patienten null der Epidemiologie, von dem
       eine Krankheit mutmaßlich ihren Ausgang nimmt. Worte sind nicht ansteckend,
       doch übertragen sie eine geistige Haltung, die sich schneller verbreiten
       kann, als man ihrer gewahr wird.
       
       Beim Hinauf- und Herunterfahren einer Maschine darf nichts knirschen, kein
       Sand im Getriebe sein. Auf eine Gesellschaft bezogen, ist das ein
       totalitäres Bild. Aber darf man solche Überlegungen jetzt anstellen,
       Sprachkritik, Ideologiekritik? Man muss es sogar, zumal angesichts der
       zweitmeist verwandten Krisenvokabel: „den Laden am Laufen halten“. Der
       Begriff kommt jovial daher, doch teilt er auf in Unverzichtbare und
       Verzichtbare, in Front und Hinterland. Verzichtbar ein Großteil des
       geistigen und kulturellen Lebens; Zuhausebleiber – ob sie je wieder
       gebraucht werden?
       
       Wer im Hinterland sitzt, denkt sich an die Front, sucht nach Rechtfertigung
       des eigenen Daseins, nach einem Platz in der großen Rettungsgemeinschaft.
       Es hat also Gründe, wenn im Hinterland nun ein Virus der Konformität
       auftritt, ein offensiv vorgetragener Wille, sich einzugliedern in einen
       Notstand härtester Art. So ist es gewiss nicht bei allen. Doch ist es zum
       Fürchten, wenn aus einer jungen, hochgebildeten, liberalen Mittelschicht
       der Ruf nach einer totalen Ausgangssperre ertönt, wie sie nicht einmal der
       Staat will.
       
       Woher rührt diese vorauseilende [1][Bereitschaft zur Unterwerfung],
       feierlich deklariert auf Instagram?
       
       ## Eine Art Krisen-Biedermeier
       
       Achtsamkeit und Vernunft sind Schlüsselbegriffe. Wer diese beiden Tugenden
       für sich selbst in besonderem Maße in Anspruch nimmt, erschafft dieser Tage
       ein neues Milieu, eine Art Krisen-Biedermeier. Das eigene regelkonforme
       Verhalten wird mit detaillierten Selbstverpflichtungen öffentlich bezeugt
       und die verordnete Entschleunigung als ein Schonraum erlebt – so
       öko-sauber, mit stillen Straßen, die nicht gegen Automobil-Interessen
       erkämpft werden mussten.
       
       Nestwärme in einer Utopie ohne Bürgerrechte.
       
       Wer dieser Tage von Freiheitsrechten spricht, wird leicht der
       Verantwortungslosigkeit bezichtigt. Manche setzen intellektuelle Reflexion
       unumwunden mit der Bereitschaft gleich, andere fahrlässig zu infizieren.
       Und überhaupt: Kritik ist nicht an der Zeit! Erst „danach“ wieder zulässig!
       Aber das Danach, wann wird es sein? Niemand weiß es. Und werden Rechte,
       wenn sie jetzt allzu leichten Herzens aufgegeben werden, eines Tages
       zurückkommen, einfach so?
       
       ## Konformitätsdruck
       
       Auch die Medien stehen unter Konformitätsdruck, von innen wie von außen,
       und Abweichungen werden sanktioniert. Als Anne Will in ihrer jüngsten
       Sendung gegen Söder stichelt, im journalistischen Tonfall früherer Zeiten,
       zieht die Süddeutsche Zeitung die Rote Karte: „Eine Moderatorin will
       spalten.“ Spalten? Ein Vorwurf aus dem Vokabular autoritärer
       Gemeinschaften. Wie locker solche Begriffe jetzt sitzen. Wer ist sichtbar
       in der Krise, wer hat Stimme? Die Älteren, also etwa ein Fünftel der
       Bevölkerung, kommen fast nirgends zu Wort, sind nur Objekt der
       fürsorglichen Belagerung. Die vielen Vereinzelten, zur Einsamkeit verdammt,
       vielleicht schreien sie dagegen an, wir hören sie vorsichtshalber nicht.
       Denn es könnte demoralisierend wirken.
       
       Weitgehend unsichtbar auch der migrantische Teil Deutschlands, obwohl dazu
       viele gehören, die den Laden zusammenhalten, unterbezahlt. Trotzdem sind
       Talk-Runden ausschließlich weiß, als könnten sich nur so Ernst und
       Verantwortung versammeln.
       
       ## Es bedarf keiner Ermächtigung
       
       Der Ausnahmezustand ist von faktischer, sozialer und geistiger Art, doch
       kaum von juristischer. Um die Gesellschaft matt zu setzen, bedurfte es
       keiner Ermächtigungsgesetze. Beruhigend ist das nicht, eher alarmierend,
       und zumindest einige Juristen sprechen das aus. Uwe Volkmann, Professor für
       öffentliches Recht in Frankfurt am Main, schreibt, nun komme eine Ahnung
       auf, „was auch in demokratischen Rechtsstaaten binnen kurzer Zeit alles
       möglich ist, wenn einmal die falschen Leute die Hebel der Macht – oder
       sagen wir es, wie es ist: die des Rechts – in die Hand bekommen.“
       
       Hans Michel Heinig, Kirchen- und Verfassungsrechtler, graust es davor, dass
       sich ein Rechtsstaat in kürzester Frist „in einen faschistoid-hysterischen
       Hygienestaat“ verwandeln könnte.
       
       Und der israelische Historiker Yuval Noah Harari fürchtet, die Epidemie
       werde zum Wendepunkt in der Geschichte der Überwachung. Durch die
       automatische Kontrolle der Körpertemperatur, vernetzt mit Bewegungsdaten,
       ließen sich Infektionsketten verkürzen. Und vor die Wahl gestellt zwischen
       Schutz der Privatsphäre und Gesundheit, wählten die meisten die Gesundheit.
       Ob das gleichermaßen gilt für die Wahl zwischen Gesundheit und Demokratie?
       
       Manche sehen nun eine Zeit der Solidarität – doch Solidarität mit wem?
       [2][Afrika schottet sich ab gegen Europa], hat Grenzen geschlossen, Flug-
       und Schiffsverbindungen gekappt. Das dreht für einen Moment die übliche
       Perspektive. Aber das Virus macht nicht gleich, wie manche bei uns
       philosophieren, es unterstreicht vielmehr eine obszöne Ungleichheit. Mali,
       20 Millionen Einwohner, 9 Intensivbetten. Zwei von fünf Erdenbürgern haben,
       so unglaublich es ist, zu Hause kein fließendes Wasser, um sich die Hände
       zu waschen. Die Zivilgesellschaft, die bei uns nun suspendiert ist, hat in
       ärmeren Ländern, wo Prävention alles ist, eine überlebenswichtige Rolle bei
       der Aufklärung.
       
       Auf demokratische Rechte zu verzichten, muss man sich leisten können.
       
       Westliche Ideologien haben gepredigt, die Gesundheitssysteme dem Profit zu
       unterwerfen. Daran leiden wir nun selbst, andere leiden schlimmer. Die
       Pandemie muss eine Zeit radikaler Kritik der bestehenden Zustände werden,
       nichts ist naheliegender.
       
       27 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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