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       # taz.de -- Coronakrise in Österreich: Solidarisch vereinzelt
       
       > In der Coronakrise ist der starke Staat zurück. Österreichs Kanzler Kurz
       > hat in null Komma nichts vom knallharten Grenzschützer zum besorgten
       > Hirten umgesattelt.
       
   IMG Bild: Geschlossene Bar
       
       Die Corona-Situation in Österreich führt zu drastischen Maßnahmen. Sie
       zeigt sich nicht nur in der Rückkehr des starken Staates mit
       Durchgriffsrechten, die man einst – in jener fernen Normalität von vor zwei
       Wochen – noch für undenkbar hielt. Es ist vielmehr das Regiment einer
       „Biopolitik“, wie Michel Foucault es genannt hat. Einer Politik, die Körper
       reguliert, aufs biologische Leben zielt. Auf jenes der Einzelnen ebenso wie
       auf jenes der Bevölkerung.
       
       Derart massive Zugriffe auf die Körper sind in liberalen Demokratien
       durchaus heikel. Macht über das Leben kann nicht rein repressiv über
       Vorschriften funktionieren. Wie etwa in China. Sie bedarf vielmehr eines
       besonderen Machthabers: eines Hirten. Er kümmert sich um die Körper.
       Unglaublich die Metamorphose des österreichischen Kanzlers: In null Komma
       nichts hat Sebastian Kurz vom knallharten Grenzschützer zum besorgten
       Hirten umgesattelt. Noch erstaunlicher ist nur: Es wirkt, als sei er nie
       ein anderer gewesen.
       
       Der Hirte übt seine Macht auf besondere Weise aus: sowohl über Kontrolle
       als auch über Fürsorge. Das ist ambivalent. Denn Fürsorge ist dabei Teil
       der Macht und die Kontrolle Teil des Schutzes. Das ist das Spezifikum
       dieser Macht über das Leben. Deshalb dieser Mix: strenge Maßnahmen und
       Appelle. Rigorose Bestimmungen, radikale Einschnitte. Ins öffentliche und
       ins persönliche Leben.
       
       ## Selbstdisziplin, Verzicht, Enthaltsamkeit
       
       Stets flankiert von Mahnungen: Zur Selbstdisziplin. Zum Verzicht. Zur
       Einschränkung der Sozialkontakte. Zur gesellschaftlichen Enthaltsamkeit.
       Zum verantwortlichen Umgang. Die Maßnahmen sind ebenso ambivalent wie die
       Macht, die sie verordnet. Sie stellen Notwendigkeiten dar, um das Virus
       einzudämmen. Und zugleich normalisieren sie Kontrollen. Eine Einübung in
       den Überwachungsstaat. Zahlreich sind die Warnungen vor der autoritären
       Gefahr, die das birgt.
       
       Ebenso ambivalent ist, dass die Biopolitik auf die Bevölkerung, auf die
       Gesamtheit der Körper zielt – deren Folgen aber durchaus klassenspezifisch
       sind. Maßnahmen treffen die Menschen völlig unterschiedlich je nach
       sozialer Lage.
       
       Was bewirken Appelle? Worin besteht denn der verantwortliche Umgang, zu dem
       wir jetzt aufgerufen sind? Im Rückzug. Im Verzicht auf Sozialkontakte.
       Üblicherweise ist Isolierung das Gegenteil von Gemeinschaft. In der
       gegenwärtigen Situation aber verkehrt sich das vollständig: Das Gemeinsame
       ist der Rückzug. Sozial ist nun, wer a-sozial lebt. Solidarisch sind wir,
       wenn wir uns vereinzeln. Zur Gesellschaft werden wir dort, wo wir getrennt
       sind.
       
       ## Geistermessen vor leeren Kirchenbänken
       
       Das Bild für diese Verkehrung sind die sogenannten Geisterevents:
       Geistermessen (etwa in Italien) vor leeren Kirchenbänken. Wer ist dabei
       eigentlich der Geist? Das abwesende Publikum. Die fehlende Öffentlichkeit.
       Die Gesellschaft, die nun darin besteht, nicht da zu sein. Daran ist
       ersichtlich, wie sehr wir auch in digitalisierten Zeiten den Formen des
       Versammelns verhaftet sind. Wie sehr dies immer noch unser Leben bestimmt.
       Oder bis jetzt bestimmt hat.
       
       Was macht das mit uns, wenn in Gesellschaft leben bedeutet, alleine zu
       Hause zu sitzen? Ist dies Sinnbild der neoliberalen Verhältnisse? Ganz und
       gar nicht. Die triumphalistische neoliberale Vereinzelung ist einer
       Vereinzelung der Schutzbedürftigkeit gewichen. Derzeit, wo die neoliberale
       Logik unterbrochen wird, wo wir als Gesellschaft statt Profit den Erhalt
       von Leben priorisieren – mag diese Erfahrung von Schwäche auch wie ein
       Versprechen wirken.
       
       Ein Versprechen von Einsicht. Demut. Umkehr. Aber Seuchen waren nie
       moralische Besserungsanstalten, aus denen Menschen geläutert und die Welt
       verbessert hervorgingen. Wie wird sich diese Erfahrung von
       „Verletzlichkeit“ (Heinz Bude) erst in gnadenlosen Post-Corona-Zeiten
       auswirken?
       
       ## Geistergesellschaft
       
       Derweil sind wir auf unsere vier Wände zurückgeworfen. Das ist alles andere
       als ein neues Biedermeier. Das Zuhause ist nicht heimelig, es bietet Schutz
       vorm Unheimlichen. Also kein Rückzug von der Gesellschaft in die private
       Idylle, sondern eben die neue Art, in der Gesellschaft zu sein. Eine
       Geistergesellschaft. Hier sind wir auf paradoxe Art vereint. Nicht als
       streitende politische Gesellschaft. Nicht als Volksgemeinschaft. Sondern
       als Bevölkerung in ihrer körperlichen Verbundenheit.
       
       26 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
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