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       # taz.de -- Kunst in der Coronakrise: Nazipelz und ein Kilo Kokain
       
       > Käthe Kruses Wortschau „Ich sehe“ ist zwar geschlossen. Durch die
       > Schaufenster der Galerie lässt sie sich aber von außen betrachten.
       
   IMG Bild: Installationsansicht Käthe Kruse „Iche sehe“ in der Berliner Galerie Nord
       
       Die Alternative zu geschlossenen Ausstellungen ist keineswegs, wie man
       meinen möchte, der virtuelle Rundgang im Computer. Im Fall von Käthe Kruses
       Ausstellung „Ich sehe“ in der Galerie Nord in der Berliner Turmstraße lohnt
       es sich durchaus, hinzufahren und sie sich durch die Schaufensterfront, die
       sich über die ganze Länge der Galerie hinzieht, anzuschauen. Die schwarz
       auf weiß gemalten Textbilder an den Wänden sind gut sicht- und lesbar.
       
       „Quadrat Querelen Quarantäne …“ Mit diesen Begriffen beginnt die
       Auflistung, die überaus sorgfältig mit der Hand auf eine der achtzig
       Leinwände gemalt ist. Man kann es von draußen lesen, und plötzlich wird man
       der delikaten Doppelbödigkeit gewahr: Die Kunst, die man wie im Aquarium
       bestaunt, weil auch die Galerie Nord wegen Corona geschlossen ist, sie ist
       in Quarantäne, sie ist das Bild der Quarantäne.
       
       Das ist nicht nur ein Zufall. Fünf Jahre lang hat Käthe Kruse an ihrer
       Ausstellung gearbeitet und dieses radikale Engagement, diese
       Arbeitsleistung kommt in der Ausstellung zum Tragen. Die Installation
       strahlt eine enorme Energie auf die Betrachter:innen aus. Zwei Jahre lang
       sammelte die Künstlerin täglich 25 Überschriften aus jeweils einer
       deutschsprachigen Tageszeitung. Gleichgültig ob in der taz, in der SZ oder
       dem Tagesspiegel durchforstete sie alle Bereiche, Politik, Gesellschaft,
       Wirtschaft, Kultur oder Sport.
       
       Diese Überschriften, die sie ganz nach ihrem Empfinden aussuchte, führten
       zu einem Konvolut von Sätzen, einem subjektiven Archiv der aktuellen
       Zeitgeschichte in Schlagzeilen. Diese übertrug sie auf einzelne
       DIN-A4-Fototafeln und ordnete sie in streng kalendarischer Abfolge. Ihr
       konzeptionelles Vorgehen könnte man mit dem Goldwaschen vergleichen, beim
       ersten Waschgang bleiben die groben Gesteinsbrocken, also die
       Überschriften, im Sieb hängen, im zweiten dann die kleinen, die Worte. Und
       das Gold blitzt dann auch zwischen ihnen auf, wenn wir nur genau schauen.
       
       ## 80 Textbilder mit 3927 Begriffen
       
       Derart extrahierte Käthe Kruse in den folgenden drei Jahren alle
       Substantive aus den Überschriften, ordnete sie Wort für Wort alphabetisch
       und malte sie in Druckschrift und mit dünnem Pinsel auf weiß grundierte,
       quadratische Leinwände. Am Ende hatte sie 80 Textbilder gemalt, mit 3.927
       Nomina. Darunter eben die „Quarantäne“ der der Begriff „Quittung“ folgt.
       Die man erhält, in Form von Quarantäne, wenn man dem jetzt erforderlichen
       Social Distancing nicht nachkommt: So ergänzen sich Ende März 2020 die
       beiden Begriff zu einem neuen Satz.
       
       Im willkürlichen Nebeneinandersetzen der Worte – sie sind auf der einzelnen
       Tafel in sich selbst nicht wieder alphabetisch geordnet – wird deutlich,
       welcher Nachdruck in einzelnen Worten liegen kann. Bei „Kaffee“ zum
       Beispiel erinnert man den Duft von Kaffeebohnen, wobei der Duft dann ins
       Kaffeehaus führt, dem Entstehungsort der bürgerlichen Öffentlichkeit, und
       zu den Zeitungen, die seit jeher zum Kaffeehaus gehören.
       
       Auf sie stützt sich Käthe Kruses Konzeptkunst noch immer, obwohl ihre Rolle
       als Instrument kommunikativer Vernunft und des Diskurses heute gerne
       verneint wird, man denke nur an Friedrich Merz, wie er frohlockte, als er
       bekannt gab, sie für seine Geschäfte und seine Politik nicht mehr zu
       brauchen.
       
       Schön sind auch die assoziativen Gedankenspiele, zu denen die Worte reizen,
       oder die Rätsel, die sie einem aufgeben. Was stelle ich mir unter einem
       „Nichtwählersofa“ oder einem „Nazipelz“ vor? Manchmal meint man, dass die
       Künstlerin die Worte schon nebenstehend vorfand: „Kilo“, „Kokain“.
       
       ## Der surrealistische Moment der Wörterreihung
       
       Gerade weil der Wörterreihung ein überraschendes surrealistisches Moment
       eigen ist, das politisch höchst brisant werden kann, ist es keine gute
       Idee, das Wort „Xenophobie“ ganz allein, wie ein Mahnmal, auf der weißen
       Leinwand stehen zu lassen. Dieses Pathos passt nicht in die Collage dieser
       ebenso anregenden wie subtilen und coolen Wortarbeit über unsere politische
       und kulturelle Alltagssprache.
       
       Natürlich ist es bitter, dass Käthe Kruse nach Jahren der Arbeit die
       Eröffnung ihrer Einzelausstellung nicht gebührend mit einer großen
       Vernissage feiern konnte und es jetzt auch am 27. März nicht kann, wo in
       der Zwinger Galerie ihre Ausstellung 366 Tage eröffnet, mit den Fotodrucken
       der Zeitungsschlagzeilen. Auch hier lässt sich manches durch die großen
       Fenster sehen. Der klare identische Aufbau, mit der weißen Wand, darauf der
       schwarze Fries, auf dem die Tafeln hängen.
       
       Und hier wie in der Galerie Nord sollten Performances zur Ausstellung
       gehören. Schließlich arbeitet Käthe Kruse, die Teil der legendären
       Künstler:innengruppe Die tödliche Doris war, seit jeher multimedial. Auf
       einer eigens produzierten Doppel-LP spricht sie sämtliche Begriffe,
       begleitet von Myriam El Haik am Piano und Edda Kruse Rosset am Schlagzeug.
       
       Als Künstlerin, die schon immer mit Textilien gearbeitet hat, produzierte
       Käthe Kruse jetzt einen Shawl zur Ausstellung, bedruckt mit allen 3927
       Begriffen, Auflage 366 Stück. Tuch und LP sind im Katalog enthalten, der im
       Distanz Verlag erscheint. Hier finden sich 80 Bildtafeln, eine Zeitung mit
       sämtlichen Überschriften sowie ein Begleitheft mit Installationsansichten
       der Ausstellungen.
       
       30 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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