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       # taz.de -- Gefängnisse in Corona-Pandemie: „Das ist ein Pulverfass“
       
       > Die Justiz reagiert spät auf die Corona-Pandemie. Nun werden Prozesse
       > ausgesetzt, Gefängnisse legen Notfallpläne an. Inhaftierte sind in Sorge.
       
   IMG Bild: Wegen Corona kein Besuch mehr hinter Gitter? Viele Inhaftierte sind in Sorge
       
       BERLIN taz | Es ist einer der Bereiche, in dem bisher weiter alles im
       üblichen Rahmen lief: die Justiz. [1][Nun aber schlägt sich die
       Corona-Pandemie] auch hier nieder. Gerichte setzten am Montag Prozesse aus
       oder ließen sie nur noch unter Auflagen weiterlaufen. Gefängnisse
       bereiteten Notfallpläne vor.
       
       Tatsächlich gab es auch in Haftanstalten schon vereinzelte
       Corona-Verdachtsfälle. In Mönchengladbach wurde ein Gefangener in
       Quarantäne genommen, nachdem er mit einer positiv getesteten Person von
       außerhalb Kontakt hatte. In Braunschweig zeigte ein Neuinhaftierter am
       Freitag Corona-Symptome. Für die Haftanstalt wurde darauf ein
       „Generaleinschluss“ für alle Gefangenen verfügt, der nach zwei Stunden
       allerdings aufgehoben wurde. Ein Testergebnis des Betroffenen stehe
       weiterhin aus, sagte ein Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums
       am Montag der taz.
       
       In mehreren Bundesländern wurden inzwischen Notfallpläne für die
       Haftanstalten vorbereitet. Hygienevorschriften wurden verschärft, Betten in
       Justizkrankenhäusern freigeräumt oder Personalreserven aufgebaut, falls
       Justizpersonal krank ausfällt. Ein Problem aber: Schon heute kommen in
       vielen Gefängnissen nur ein Arzt oder eine Ärztin auf mehrere hundert
       Inhaftierte. Bei einer größeren Erkrankungswelle dürften große
       Schwierigkeiten bevorstehen.
       
       ## Besuchssperren möglich
       
       [2][In Heinsberg in NRW, das besonders stark vom Coronavirus betroffen
       ist], dürfen Inhaftierte in der örtlichen JVA keinen Besuch mehr empfangen,
       nur noch Anwälte in dringlichen Angelegenheiten. Baden-Württemberg
       verhängte nun am Montag ein landesweites Besuchsverbot in allen
       Haftanstalten. Justizminister Guido Wolf (CDU) sprach von einer
       „einschneidenden“, aber notwendigen Maßnahme, um Gefangene und Bedienstete
       zu schützen. Als Ausgleich würden Telefonzeiten der Inhaftierten
       ausgeweitet.
       
       Anderenorts ist man mit Einschränkungen zögerlicher. Es gebe einen
       Rechtsanspruch auf Besuch, zudem wolle man die Inhaftierten nicht völlig
       isolieren, heißt es aus anderen Ländern. Teilweise würden die Gefangenen
       aber gebeten, freiwillig auf Besuch zu verzichten oder diesen hinter
       Scheiben in Empfang zu nehmen.
       
       Marco dos Santos, ein Sprecher der bundesweiten „Gefangenengewerkschaft“,
       sagte der taz: „Wir sehen mit der Corona-Pandemie ein Pulverfass in den
       Gefängnissen.“ Schon heute herrsche in den Haftanstalten eine „teils
       katastrophale medizinische Versorgung“. Der Corona-Virus könnte dies
       „dramatisch verschlechtern“. Auch dürften Gefangene nicht über Wochen in
       ihren Zellen weggesperrt werden. „Nach Fieberkontrollen müssen Hofgänge und
       Besuch möglich bleiben. Auch sollten den Gefangenen eingehende Telefonate
       in den Zellen erlaubt werden.“ Dos Santos fordert, Freigänger vorerst nicht
       mehr zurück in die Gefängnisse zu schicken und Kurzzeitfreiheitsstrafen
       auszusetzen.
       
       Tatsächlich setzten Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg sogenannte
       Ersatzfreiheitsstrafen vorerst aus. [3][Das betrifft etwa notorische
       Schwarzfahrer, die Geldstrafen nicht zahlen wollen oder können]. Deren
       Haftantritt wird nun um mehrere Monate aufgeschoben. In Berlin sollen auch
       die noch rund 270 Personen, die mit Ersatzfreiheitsstrafen einsitzen, nach
       und nach entlassen werden. Es gehe darum, eine Ansteckungsgefahr zu
       reduzieren und medizinische Ressourcen zu bündeln, so ein Sprecher der
       Berliner Justizverwaltung.
       
       ## „Auf Großprozesse verzichten“
       
       Unter Justizbediensteten und AnwältInnen wuchs zuletzt zudem die Unruhe,
       weil trotz der Pandemie weiter Prozesse verhandelt werden. Es gebe eine
       Fürsorgepflicht auch für Verfahrensbeteiligte, hieß es dort. Das Problem:
       Gänzlich ausgesetzt werden können gerade Prozesse mit inhaftierten
       Angeklagten nicht, da für diese eine Unschuldsvermutung gilt und sie nicht
       unbegrenzt eingesperrt werden können. Zudem kann dies auch nicht von oben
       angeordnet werden, da RichterInnen über die Prozessführung unabhängig
       entscheiden.
       
       „Großprozesse sollte man in der jetzigen Situation eher nicht mehr
       durchführen“, forderte Ulrike Paul, Vizepräsidentin der
       Bundesrechtsanwaltskammer. Gleichzeitig müssten aber Übergangsregelungen
       gefunden werden, damit länger pausierende Prozesse nicht neugestartet
       werden müssten. „Da braucht es eine schnelle gesetzliche Regelung.“ Paul
       appellierte zudem an die Gerichte, jetzt „flexibel und kulant auf die
       aktuelle Lage zu reagieren“.
       
       Am Montag appellierten auch die Justizministerien in Baden-Württemberg,
       Schleswig-Holstein oder Berlin, Verhandlungen „auf ein Minimum“ zu
       reduzieren. Auch der Zugang zu Justizgebäuden sei einzuschränken.
       Baden-Württembergs Justizminister Wolf sagte: „Diese historische Situation
       erfordert auch für die Justiz Maßnahmen, wie sie in der Geschichte
       Baden-Württembergs bislang noch nicht notwendig waren.“ Eilentscheidungen
       und solche in Haft- oder Familiensachen sowie langlaufende
       Strafverhandlungen würden aber weiter verhandelt.
       
       ## Prozesse ausgesetzt oder mit Auflagen
       
       In mehreren Gerichten bundesweit wurden bereits seit Tagen keine
       Besuchergruppen mehr in die Gebäude gelassen. ZuhörerInnen in den
       Prozessen müssen aber erlaubt bleiben, da Verhandlung grundsätzlich
       öffentlich sind. Am Montag nun setzten mehrere Gerichte Prozesse aus,
       andererorts wurden Auflagen verhängt. So verordnete etwa das Landgericht
       Freiburg, in dem ein Großprozess wegen einer Gruppenvergewaltigung mit
       allein elf Angeklagten verhandelt wird, eine Obergrenze von 50 Personen in
       den Sitzungssälen. Im Publikum sei jeder zweite Platz freizuhalten.
       
       Baden-Württembergs Justizminister Wolf erklärte: „Es muss sich niemand
       Sorgen machen. Der Rechtsstaat funktioniert auch in der Krise.“ Auch ein
       Sprecher der niedersachsischen Justizministerin Barbara Havliza (CDU)
       stellte klar: „Der Zugang zum Recht soll und darf nicht verhindert werden.“
       
       16 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kampf-gegen-Corona-Pandemie/!5671826&s=Corona/
   DIR [2] /Corona-Alarm-in-NRW/!5667772&s=Heinsberg/
   DIR [3] /Haftstrafen-fuer-Schwarzfahren/!5529577&s=ersatzfreiheitsstrafen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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