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       # taz.de -- Roman „Nina X“ über maoistische Sekte: Selbstkritik ohne Selbst
       
       > Der Schriftsteller Ewan Morrison erzählt in „Nina X“ von einer Frau, die
       > in einer maoistischen Sekte aufwuchs. Sie berichtet, wie sie Freiheit
       > erlebt.
       
   IMG Bild: Für die Hauptfigur des Romans „Nina X“ beginnt das Bild des „Großen Vorsitzenden“ Mao zu bröckeln
       
       Zunächst ist da eine Liste. Die liest sich so naiv wie irritierend: „Alle
       Arten von Schokolade essen. Ein Flugzeug fliegen. Kenntnisse über das
       Ausruhen erwerben. Einen Supermarkt aufsuchen.“ Das sind alles Dinge, „die
       auszuprobieren sind“, und zwar so bald wie möglich. Nina ist der Name der
       Verfasserin dieser Liste, und diese steht unter der Überschrift „Kladde
       #242“. Als Jahr ist 2018 angegeben. Auch die anderen Kapitel des Romans
       „Nina X“ sind nach Kladden mit einer bestimmten Nummer benannt. Wobei die
       Jahre einen großen Abstand aufweisen. Die einen beginnen 2018, die anderen
       im Jahr 2002.
       
       Was bei unvorbereiteter Lektüre zunächst einigermaßen verwirrt, ergibt beim
       Voranschreiten der Kladden und damit der Handlung zunehmend Sinn. Sämtliche
       Kladden stammen von Nina. Wie man aus den neueren Heften erfährt, wohnt sie
       seit Kurzem in der Wohnung eines Frauenhauses und hat eine Betreuerin, die
       sie „Charity Sonia“ nennt.
       
       Zuvor lebte Nina in einem Haus in London, wo sie in einer maoistischen
       Sekte aufwuchs. Von Kindesbeinen an war sie dort eingesperrt, unbemerkt von
       der Öffentlichkeit und den Behörden. Weshalb sie noch nie in einem
       Supermarkt war. Einen Nachnamen hatte man ihr im Kollektiv auch keinen
       gegeben.
       
       Die frisch befreite Nina hat die Neigung, alle Menschen, die sie
       kennenlernt, mit „Genosse“ anzureden. Und sie hat Angst vor vielen Dingen,
       die für die meisten Menschen ganz selbstverständlich sind: Autos etwa,
       allein essen oder sich draußen frei bewegen.
       
       „Nina X“ ist das siebte Buch des schottischen Schriftstellers und
       Drehbuchautors Ewan Morrison. Auf Deutsch ist zuvor lediglich sein
       Debütroman „Swinger“ (2008) erschienen. Man kann ihn hierzulande mithin
       noch ein wenig entdecken. Was sich lohnt. Denn diese scheinbar hanebüchene
       Versuchsanordnung, in der man Ninas „Berichte“ aus ihrer
       Sektengefangenschaft parallel zu ihren ersten betreuten Schritten in die
       Freiheit mitverfolgen kann, ist haarsträubend, klug und fesselnd. Sie kann
       sogar seltsam komisch sein.
       
       ## Projekt eines heranzuziehenden „perfekten“ Menschen
       
       Surreal muten die Aufzeichnungen aus Ninas Gefangenschaft an, denen
       regelmäßig Anmerkungen der Genossen folgen. Da darf sie nicht einmal „ich“
       schreiben, sondern muss sich ausnahmslos „Das Projekt“ nennen. Schließlich
       ist sie das Projekt eines heranzuziehenden „perfekten“ Menschen, und über
       das Selbst nachzudenken ist nach Auffassung des Sektenführers „Genosse
       Chen“ als selbstsüchtig abzulehnen.
       
       Alle Possessivpronomen müssen von Nina beziehungsweise Dem Projekt daher in
       den Berichten „ausradiert“ werden. Im Druck sind diese Wörter grau
       kenntlich gemacht. Auch Bestrafungen sind als Teil der „Selbstkritik“ an
       der Tagesordnung. Und aus den Anmerkungen von Chen und seinen
       Mitstreiterinnen lässt sich das Maß an Manipulation erahnen, dem Nina
       ausgeliefert war.
       
       Morrison hat sich für die Geschichte von „Nina X“, die er zunächst als
       Science-Fiction-Erzählung plante, zum Teil von realen maoistischen Sekten
       inspirieren lassen, darunter ein Kollektiv in London, das wie in seiner
       Geschichte eine Frau von Geburt an gefangengehalten hatte. Ein moderner
       Kaspar Hauser, wie er in der Nachbemerkung schreibt. Wobei Nina in ihrer
       Sekte im Unterschied zu Kaspar Hauser durchaus zu sprechen und insbesondere
       zu schreiben gelernt hat, die Mao-Bibel gehörte zu ihrem Bildungsprogramm.
       
       ## Unvermögen, ihre eigenen Regungen zu benennen
       
       Was Nina hingegen fehlt, sind Worte für ihre Gefühle. Die durften in der
       Sekte als „Privatbesitz“ keine Rolle spielen. In den Kladden aus der
       Gegenwart kollidiert ihre präzise Wahrnehmung von sich selbst, den anderen
       und ihrer Umgebung mithin ständig mit dem Unvermögen, die Reaktionen und
       Handlungen anderer zu „lesen“ oder ihre eigenen Regungen zu benennen.
       
       Morrison nutzt die Weltfremdheit und emotionale Unartikuliertheit Ninas
       dabei ausgiebig für Gegenwartskritik. So bescheinigt Nina einer
       Mitarbeiterin des Frauenhauses, Cas, dass ihre Freiheit darin bestehe,
       allein zu Hause zu sitzen und andere „wegzuwischen“ – diese hatte Nina
       zuvor auf dem Smartphone eine Dating-App gezeigt.
       
       Nach einigen Tagen unter „normalen“ Menschen resümiert sie: „In Freiheit
       sind die Menschen einander egal.“ Und an anderer Stelle lautet Ninas
       ernüchtertes Fazit ihrer maoistischen (Um)erziehung, nachdem sie eine
       Dokumentation über die Opfer des Mao-Regimes gesehen hat: „Die Menschen
       versuchen Leichen unsichtbar zu machen, indem sie sagen, dass sie Ideale
       haben.“
       
       Ewan Morrison hält diese direkte und entlarvende Sprache Ninas bis zum
       Schluss durch. Dank der schnörkellosen Übersetzung von Christian Lux
       entfaltet sich die ungefilterte Wucht auch im Deutschen.
       
       31 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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