URI: 
       # taz.de -- Hamburg und das Virus: Alle Schotten dicht
       
       > St. Pauli besteht eigentlich aus dem, was jetzt alles nicht mehr sein
       > darf. Die Schriftstellerin Simone Buchholz über ihren Kiez in Zeiten von
       > Corona.
       
   IMG Bild: Leere auf der „Großen Freiheit“ auf St. Pauli nach dem Ausbruch von Corona
       
       Wenn auf St. Pauli die Kirschen blühen, erblühen auch die Menschen. Nach
       dem Winterschlaf streckt sich der Stadtteil üblicherweise kurz, schickt ein
       bis zwei Rülpser in den Himmel, kratzt sich unter der Gürtellinie und dann:
       alle raus da.
       
       Der Winter in Norddeutschland ist grau und nass und ungemütlich, die
       Straßen sind es auch, deshalb sind zwar die Bars in den dunklen Monaten
       voll (eine Freundin von [1][mir] nennt den Januar immer „Ballsaison!“),
       aber gerade St. Pauli wirkt dann oft, als würde es schlafen, wenn nicht
       gerade zum Beispiel ein Fußballspiel ist oder Rummel.
       
       Na ja gut: Viele schlafen auch einfach ihren Rausch aus. Aber plötzlich, so
       gegen Ende März, wachen die Straßen auf, sie füllen sich exponentiell, es
       ist ein dynamischer Aufbruch, es lässt keinen kalt, alles, was über den
       Winter geschlossen war oder sich nur ein bisschen zurückgezogen hat, macht
       jetzt wieder 24/7 auf, auch die Menschen. Entlang des Hafens breitet sich
       ein Lächeln aus, und alle führen in einer Tour dieses eine, kleine
       Gespräch:
       
       „Mensch, wo warst du denn den ganzen Winter, dich hab ich ja ewig nicht
       gesehen, obwohl, stimmt, jeden Dienstag in der Kneipe, aber sonst wirklich
       NIE.“
       
       „Ja, höhö, dieser verdammte Scheißwinter.“
       
       ## Öffentliche Liebesbekundung
       
       Ich beobachte das Schauspiel seit ungefähr 20 Jahren, und jedes Jahr rührt
       es mich aufs Neue. Es ist eine öffentliche Liebesbekundung zwischen
       Menschen, ein großes Wiedersehen, eine tiefsitzende Freude am urbanen
       Leben.
       
       Inmitten seines schönsten Rituals ist St. Pauli gerade voll gegen die Wand
       gebrettert und rutscht da jetzt so ganz langsam und klebrig zu Boden, es
       hat eine Gesichtsbremse hingelegt, deren Narben noch sehr lange zu sehen
       sein werden.
       
       St. Pauli fährt also runter. Macht die Schotten dicht und taucht ab. Wird
       still, leer, die bunten Lichter, die sonst das Licht des Tages ablösen,
       gehen Stück für Stück aus.
       
       Normalerweise (wow, das Wort normal läuft mir aber hölzern durch die
       Tastatur), wenn ich abends an meinem Schreibtisch im Wohnzimmer sitze, auf
       der Couch liege oder auf dem Balkon stehe, ist an jedem Tag der Woche
       irgendein Lärm auf der Straße, Gesang, Gelächter, klirrendes Glas. Ich
       kenne diesen Stadtteil nicht ohne seine Geräusche, ohne die Menschen auf
       den Straßen, selbst im Winter bei Eisregen rennt St. Pauli draußen rum,
       auch wenn alle im Frühling immer behaupten, es wäre keiner da gewesen. St.
       Pauli lebt vom Lärm der Lebewesen, und neben den Möwen und den Hunden
       gehören da eben auch die Menschen zu, mit ihrer Musik im Körper.
       
       ## Wie bei den Eltern am See
       
       Jetzt ist es so still wie bei meinen Eltern an einem holsteinischen See.
       Ich bilde mir ein, dass nicht mal mehr der Hafen zu hören ist. Vielleicht
       ist er zu traurig, um darüber zu reden?
       
       Auch mir fehlen, während ich das hier schreibe, die Worte dafür, es ist so
       neu, so unbekannt, mir ist, als müsste ich erst noch was erfinden dafür,
       aber die leeren Straßen machen auch meinen Kopf so leer. Hier, als eine Art
       Notmaßnahme, ein einfaches Bild: Der Elbschlosskeller am Hamburger Berg,
       einer dieser uralten Höllenklassiker, Treppe runter, rein in den Wahnsinn,
       musste sich vor dem Shutdown erst mal ein neues Schloss einbauen lassen.
       Das alte war ewig nicht benutzt worden, der Elbschlosskeller hatte seit 70
       Jahren durchgehend auf.
       
       Solange es noch geht, laufe ich morgens gegen acht in die Wallanlagen, um
       mein Lungenvolumen etwas aufzupumpen, und da, wo früher (früher!) um diese
       Uhrzeit Liebespärchen, Flaschen, Essen und andere Reste von letzter Nacht
       rumlagen, liegt jetzt nur Traurigkeit. Denn St. Pauli besteht quasi aus
       dem, was jetzt alles nicht mehr sein darf: Kunst, Kultur, Bars, kleinen
       Läden. Wir dachten, das sei eine stabile Mischung, ein gute Art zu leben.
       Wir ahnen jetzt, dass ein großer Teil von dieser Mischung danach – wonach
       eigentlich? – nicht mehr da sein wird. Er wird vielleicht nicht überlebt
       haben.
       
       Es gibt Hoffnung, weil unsere Kulturbehörde versprochen hat, auf die Kunst
       aufzupassen, und auf die kleinen Läden und Bars soll auch aufgepasst
       werden, aber erst mal müssen wir jetzt auf die Menschen aufpassen, auf die
       Ärzt*innen und Pfleger*innen und auf die Schwachen und Alten, das ist
       wichtig, das ist uns allen klar, aber uns ist auch klar, dass wir nicht
       systemrelevant sind.
       
       Ein Ort wie St. Pauli ist in guten Zeiten eine Bank, in schlechten Zeiten
       muss man sich so eine abgerissene Truppe von Bohèmiens erst mal leisten
       können. Die Cafés halten die Winter schon lange nur deshalb durch, weil sie
       die Verluste im Sommer wieder reinholen. Was, wenn der Sommer 2020 von
       diesem Scheißkackvirus genauso annulliert wird wie der Frühling?
       
       Dann könnten hier für sehr lange Zeit die Lichter ausgehen, dann hat die
       Hälfte der Leute keine Jobs mehr, und dann hilft auch keine Kunst vom
       Balkon oder im Internet. St. Pauli funktioniert nicht im virtuellen Raum,
       St. Pauli braucht echten Dreck, und das sind nun mal Menschen.
       
       ## Gute Zeiten, schlechte Zeiten
       
       Aber St. Pauli hat auch etwas, das den Stadtteil retten könnte, St. Pauli
       hat ein weiches Herz und einen harten Kern: Solidarität. Vielleicht, weil
       hier alles aus Schiffen gemacht ist, aus den Seelen der Matrosen, aus den
       Händen der Reeper, aus dem Wissen der Bordsteinvögel – wir sitzen alle in
       einem Boot und wir ziehen alle an einem Strang. Anders geht es nicht, und
       nur so kommt man heil durch den Sturm oder zumindest diesen eiskalten Wind,
       der eben manchmal pfeift und den alle ja schon mal erlebt haben, auf die
       ein oder andere Art.
       
       Die Solidarität kommt dem Stadtteil gerade aus allen Ritzen gekrochen. Hier
       ein paar der schönsten Bilder, falls jemand so was gerade brauchen kann:
       Die Leute in den Wallanlagen sitzen da nicht in Grüppchen, niemand käme auf
       so einen unsolidarischen Mist, sie joggen im sauberen Abstand von zwei
       Metern aneinander vorbei und unter den Kirschblüten hindurch, und sie
       lächeln sich an.
       
       Jeden Morgen kommt mir die junge Frau entgegen, die ihren übergewichtigen
       Vater Runde um Runde mitschleift, aus Kreislaufgründen, schätze ich. Die
       urbanen, sonst so abgebrühten Menschen lächeln sich eingeschüchtert vom
       großen Ganzen an, wenn sie sich begegnen, aus der Ferne natürlich. Es hat
       sich innerhalb eines Tages eine Einkaufshilfe für alte Leute aufgestellt,
       eine einzige Rundmail über den Stadtteilverteiler (ja, wir haben so was)
       hat es gebraucht, jetzt liegt eine Liste mit Telefonnummern für jede Straße
       in der Apotheke.
       
       Und jeden Tag zwischen 14 und 15 Uhr, wenn an der Kreuzung vorm
       Drogeriemarkt für eine Stunde die Sonne zwischen den Häusern steht, trafen
       wir uns, solange es noch möglich war. Mal zu viert, mal zu fünft, mehr
       Leute sind zu viele, dann verabschiedete sich jemand höflich und geht. Wir
       standen dort in mindestens zwei Metern Abstand, der Schauspieler, der
       letzten Sonntag die Idee hatte, sich doch am nächsten Tag einfach wieder
       hier zu treffen, sagte, er würde immer so spucken beim Reden, also geht
       doch noch mal einen Schritt zurück.
       
       Wir standen da nicht aus Langeweile, sondern damit die, die alleine leben,
       einmal am Tag wen sehen, bevor das für lange Zeit vielleicht nicht mehr
       geht. Und jetzt geht's halt nicht mehr...
       
       ## Ehrenmann oder Arsch
       
       Als ich meinem Sohn in der zweiten Märzwoche umständlich rücksichtsvoll
       erklären wollte, warum wir uns jetzt in einer Tour 30 Sekunden die Hände
       waschen, sprach aus ihm das pralle St. Pauli: Ist doch klar – wäscht du dir
       die Hände, bist du ein Ehrenmann, wäscht du sie dir nicht, bist du ein
       Arsch.
       
       In unserem Hinterhof gehen gerade die Kirschblüten auf. Außerdem steht da
       noch ein Flieder. Ich hoffe so sehr, dass Mitte Mai, wenn der Flieder
       blüht, auch im Stadtteil ein paar Blüten überlebt haben.
       
       24 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://simonebuchholz.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Buchholz
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR St. Pauli
   DIR Solidarität
   DIR Gastronomie
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR IG
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kneipen und Alkoholverbot auf St. Pauli: Vor der Sperrstunde
       
       Die Stimmung auf St. Pauli ist am Boden. Die Bars dürfen wieder öffnen,
       aber die Auflagen erlauben ihnen kein gutes Geschäft. Eine Tour über den
       Kiez.
       
   DIR Charaktere in Corona-Zeiten: Das neue Normal ist ziemlich super
       
       Die neue Lebenssituation zeigt unser Gesicht. Sie lässt bei uns die
       dominante Eigenschaften deutlicher hervortreten – fast wie unter einem
       Brennglas.
       
   DIR Kunst in der Coronakrise: Nazipelz und ein Kilo Kokain
       
       Käthe Kruses Wortschau „Ich sehe“ ist zwar geschlossen. Durch die
       Schaufenster der Galerie lässt sie sich aber von außen betrachten.
       
   DIR Rundgang auf St. Pauli: Nur ein blasser Schimmer
       
       Der Hamburger Kiez ist im Normalfall laut und klebrig, er blinkt und
       stinkt. Nun hat der Coronavirus das Leben dort von den Straßen gefegt.
       
   DIR Corona-Pandemie in Bayern: Wir müssen drin bleiben
       
       In Bayern gelten seit Freitag die bundesweit strengsten
       Ausgangsbeschränkungen. Wie ist die Stimmung im Freistaat?
       
   DIR Corona und der Alltag: Das Leben der Anderen
       
       Wir leben nicht in dem Ausnahmezustand, den der Philosoph Giorgio Agamben
       beschreibt. Aber die Corona-Krise trifft nicht alle gleichermaßen.
       
   DIR Menschen mit systemrelevanten Berufen: Auf sie kommt es jetzt an
       
       In der Corona-Krise halten die Beschäftigten in Krankenhäusern,
       Supermärkten, Praxen das System am Laufen. 13 von ihnen berichten aus ihrem
       Alltag.